Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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mußte. Man kann nicht mit Unrecht sagen: Die 
Geschichte des mittelalterlichen Staats ist die Ge- 
schichte der Zersplitterung der gesamten öffentlichen 
Gewalt und zugleich eine Geschichte der Versuche, 
diese Zersplitterung zu überwinden oder doch ihre 
Folgen zu mildern (Jellinek a. a. O. 313). 
Das Resultat dieser Einigungsversuche, dieser 
Zurückdrängung zu weitgehender Zersplitterung ist 
die Ausbildung des ständischen Staats, der aber 
zugleich „der typische Ausdruck der dualistischen 
Gestaltung des germanischen Staatswesens" ge- 
worden ist. Auch die Formel „Kaiser und Reich“ 
ist in ihrer Gegenüberstellung wie in ihrer Zu- 
sammenfassung ein Ausdruck des mittelalterlichen 
staatlichen Dualismus (Jellinek a. a. O. 314). 
Was die Stellung der Staatsgewalt zu den In- 
dividuen angeht, so war das Verhältnis kein un- 
mittelbares und paritätisches wie beim modernen 
Staat. Der moderne Staat „gliedert sich paritä- 
tisch in eine Unzahl von Rechtsgliedern, die — 
unter sich formell gleichberechtigt — nur die staat- 
liche Herrschaft über sich anerkennen“; der mittel- 
alterliche Staat ist „herrschaftlich organisiert“ und 
geschichtet (Berolzheimer, System der Rechts- 
und Wirtschaftsphilosophie III: Philosophie des 
Staats samt den Grundzügen der Politik (1906) 
76). Die herrschaftliche Organisation des 
mittelalterlichen Staats bringt mit sich neben be- 
vorrechteten Volksteilen eine Reihe von Verhält- 
nissen der Unfreiheit. (Uber die Begründung und 
Entstehung der Unfreiheit, besonders auch über 
deren relative Rechtfertigung vgl. besonders Adolf 
Wagner, Grundlegung der polit. Okonomie II 
[ 1894] 43/82; daselbst auch eingehendere kriti- 
sche Literaturangabe: Hinweis auf neuere histori- 
sche Feststellungen und neuere Erscheinungen bei 
v. Below, Art. „Unfreiheit“, im Wörterbuch der 
Volkswirtsch. III„19071 1105 ff.) Die Stellung 
des Individuums ist überhaupt im mittelalterlichen 
Staat nicht getragen von dem Gedanken des In- 
dividualrechts, sondern von dem Gedanken des 
Korporations= und Verbandsrechts; im Verband 
und in der Korporation konnte und sollte der ein- 
zelne sich zur Geltung bringen. Der einzelne war, 
soweit er nicht zugleich Herrschaftsträger war, 
rechtlich, wirtschaftlich und sozial gebunden durch 
den Verband, dem er angehörte. Klassenverbände 
gibt es zu allen Zeiten, aber der Klassenverband 
(zünftige oder feudale) ist im Mittelalter kein freier 
wie in der Gegenwart, weder bezüglich des Klassen- 
bands an sich noch bezüglich der Klassenzugehörig- 
keit des einzelnen (Berolzheimer a. a. O. 230). 
3. Nicht zuletzt wird der mittelalterliche Staats- 
typ charakterisiert durch das Verhältnis von 
Staat zur Religion und Kirche, und 
zwar in gleicher Weise nach zwei Seiten. Einmal 
durch die weitgehende Verschmelzung staatlicher 
und kirchlich-religiöser Aufgaben und sodann und 
damit im Zusammenhang durch den Kompetenz- 
kampf der staatlichen und kirchlichen Gewalten. 
In ersterer Beziehung stellt sich der mittelalterliche 
Staat, der mittelalterliche. 
  
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Staat dar als Glaubensstaat, der es als seine 
Aufgabe erkennt. Glaubenseinheit und Glaubens- 
reinheit strafrechtlich zu schützen. „Die Religion 
wird unbedingt zur Staatssache gemacht und in 
die bürgerliche Ordnung verflochten, so daß reli- 
giöse Verirrungen und Spaltungen alsbald auch 
auf das politische Gebiet zurückwirken, und die 
Staatsgewalt sich dadurch zu ihrer eignen Er- 
haltung gedrungen fühlt, die von der Kirche ver- 
worfenen Irrlehren gegen deren Anhänger als 
Staatsverbrechen mit schweren Strafen zu ver- 
folgen“ (Walter, Naturrecht und Politik im Licht 
der Gegenwart [218711 375). 
Der zweite Punkt sodann, der Dualismus der 
staatlichen und kirchlichen Gewalten im mittel- 
alterlichen Staatswesen, ist nicht schon mit dem 
Vorhandensein zweier getrennter Gewalten ge- 
kennzeichnet, sondern durch den Hinweis auf die 
weitgehende Vermischung der Kompetenzen und 
den dadurch entstehenden Kampf. Die staatliche 
Gewalt regierte in vielen kirchlichen Dingen, und 
umgekehrt übte und beanspruchte die Kirche Herr- 
schaftsbefugnisse in weltlichen Dingen. Manche 
dieser beiderseitigen Herrschaftsansprüche waren 
begründet durch die tatsächliche weitgehende Ver- 
mengung. Manche Herrschaftserweiterung ergab 
sich bei der Kirche aus ihrer Stellung als Ver- 
mittlerin und Trägerin der höheren geistigen Kul- 
tur. In grundsätzlich theoretischer Beziehung han- 
delte es sich im Kern nicht um eine absolute 
Oberherrschaft der Kirche, sondern darum, ob die 
Kirche die Anwendung der sittlichen Grundsätze 
auf die einzelnen Fälle durch seelsorgerlichen Ein- 
fluß (im weitesten Sinn) erreichen soll oder ob 
sie in Formen der Gerichtsbarkeit über die sitt- 
liche Zulässigkeit einzelner Fälle und zugleich über 
deren rechtliche Existenz und Verbindlichkeit abur- 
teilt, unter Ausschluß oder doch unter rechtlicher 
Korrektur der weltlichen Gerichtsbarkeit. (Zur 
theologischen Beurteilung dieser Frage ist die 
Unterscheidung zu beachten, daß es sich um etwas 
handelt, was auf dem Boden des Evangeliums 
zwar zulässig ist, aber nicht vom Evangelium ge- 
fordert wird. Vgl. v. Ketteler, Das Recht und der 
Rechtsschutz der katholischen Kirche in Deulschland 
[1854 39: „Dieses Verhälmis war nicht gegen 
die Stiftung, es ist aber auch kein notwendiger 
Ausfluß der Stiftung Christi und hat daher auf- 
gehört, seitdem die Völker es aufgelöst haben.“) 
Im einzelnen lassen sich diese Herrschaftsan- 
sprüche der Kirche gegenüber dem mittelalterlichen 
Staat unterscheiden in Ansprüche auf eine gewisse 
Herrschaft über den Staat und in Ansprüche auf 
eine rechtliche Herrschaft unabhängig und neben dem 
Staat. In erster Linie handelte es sich um die dem 
Papst zugeschriebene Befugnis, Fürsten abzusetzen 
und weltliche Gesetze zu kassieren. In zweiter 
Linie war es die Forderung der exemten, fast ex- 
territorialen Stellung des Klerus und nicht zuletzt 
die Ausdehnung der geistlichen Gerichtsbarkeit auf 
weltliche Dinge. Gerade der letztere Punkt nebst
	        
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