1395
der staatlichen Zuständigkeit sich für entzogen er-
klärte.
3. Bezüglich seines Verhältnisses zum Indivi-
duum charakterisiert sich der moderne Staat fol-
gendermaßen. Einmal ist er nicht herrschaftlich
organisiert und kennt keine rechtlichen Unfreiheits-
verhältnisse wie der mittelalterlich-ständische Staat.
Seine Organisation ist eine staatsbürgerliche,
d. h. die Individuen stehen formell gleichberechtigt
und unmittelbar unter der staatlichen Herrschaft.
Der moderne Staat ist ferner Rechtsstaat
(Gegensatz: Polizeistaat), d. h. er anerkennt und
setzt Rechtsschranken zwischen seiner Herrschafts-
gewalt und dem Individuum. Dieser positiv-recht-
liche Ausbau einer Freiheitssphäre des Indivi-
duums gegenüber dem Staat ist ein besonderes
Charakteristikum des modernen Staats. Diese
Rechtsschranken bestehen nicht nur darin, daß der
Staat gegenüber dem Individuum zu Forderungen
von Leistungen und Unterlassungen nur berechtigt
ist auf Grund von Gesetzen, und zwar von Ge-
setzen, an deren Schaffung das Volk beteiligt ist
(Verfassung), sondern auch vor allem darin, daß
der Staat eine Rechtskontrolle über seine Exekutive
schafft und anerkennt.
4. In seinem Verhältnis zur Religion kenn-
zeichnet sich der moderne Staat alsüberkonfes-
sionell. Das besagt, daß er mit keiner der be-
stehenden Konfessionen sich identifiziert, daß er im
Gegensatz zum mittelalterlichen Glaubensstaat es
ablehnt, Glaubenseinheit und Glaubensreinheit
strafrechtlich zu schützen, daß er die Zulassung zu
staatlichen Amtern unabhängig sein läßt von der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konzfession.
Eine der praktisch am meisten hervortretenden
Seiten der Überkonfessionalität ist die staats-
bürgerliche Toleranz.
Diese Überkonfessionalität kann praktisch zur
vollständigen Trennung von Staat und Kirche
ausgebaut werden; sie verträgt sich aber ebenso
mit dem Festhalten an der Verbindung von Staat
und Kirche, sowie mit dem Festhalten an der Idee
des christlichen Staats, wonach der Staat — bei
aller rechtlichen konfessionellen Freiheit seiner Glie-
der — die christlichen Anschauungen und den christ-
lichen Geist seiner Betätigung zugrunde legt und
gleichzeitig die christlichen Kirchen wegen ihrer Be-
deutung für den größten Teil seiner Staatsange-
hörigen unterstützt und fördert. (Vgl. auch Art. 14
der preußischen Verfassung: Die christliche Reli-
gion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats,
welche mit der Religionsübung im Zusammen-
hang stehen, unbeschadet der im Art. 12 ge-
währleisteten Religionsfreiheit, zugrunde gelegt.)
„Dies Prinzip des christlichen Staats, wenn es
sich innerhalb der Schranken des Reichsgesetzes
über Gleichberechtigung der Konfessionen in bür-
gerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung hält,
verletzt nicht die Grundrechte der Bekenntnis= und
Kultusfreiheit" (Rehm, Allgem. Staatslehre,
Sammlung Göschen [1907) 142.— Ebendaselbst
Staatenverbindungen.
1396
S. 141 eine knappe, aber zutreffende rechtlich-
politische Würdigung des Kampfes der Freidenker
gegen den christlichen Staat. — Über Bismarcks
Auffassung desschristlichen Staats: Rosin, Grund-
züge einer allg. Staatslehre nach den polit. Reden
und Schriftstücken Bismarcks 18981 13).
5. Nach dem Umfang der Staatsbetätigung er-
weist sich der moderne Staat als Kulturstaat
mit Vorzug. Zwar gilt auch vom modernen
Staat, daß die Sicherungsaufgaben (Waffenschutz
und Rechtsschutz) grundsätzlich den Primat unter
den Staatsaufgaben haben müssen, d. h. die erste
Aufgabe auch des modernen Staats bilden. Aber
die staatliche Kulturförderung ist bei den gewaltig
gesteigerten Kulturbedürfnissen tatsächlich und
bewußt eine viel umfangreichere und intensivere
geworden. Der moderne Staat widmet sich
in seinem eignen Interesse auf dem Gebiet
kultureller Betätigung einer ganzen Reihe von
Aufgaben, die früher ausschließlich andern Or-
ganisationen, insbesondere auch kirchlichen usw.,
überlassen war. Eine ganze Reihe von Kul-
turbedürfnissen sodann hat die moderne Zeit er-
geben, die in gleich intensiver Weise von privater
Unternehmung gar nicht befriedigt werden könnten.
(Zur kritischen Würdigung der wachsenden Kultur-
aufgaben des Staats vgl. Adolf Wagner, Grund-
legung der politischen Okonomie I. Tl, 2. Halb-
band („1893|). Der Staat, volkswirtschaftlich
betrachtet 867/925; besonders das dritte Kapitel:
Das Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffent-
lichen bzw. der Staatstätigkeiten 892/908).
Ohne Zweifel steht die katholische Kirche auch
auf diesem Gebiet im modernen Staat veränderten
Verhältnissen gegenüber. Aber mit nichten ver-
langt die Anerkennung des modernen Staats als
Kulturstaat dessen „Stabilisierung als alleinigen
Kulturträger“", so daß es vom Wesen des mo-
dernen Staats gefordert wäre, die Kirche von kul-
tureller Betätigung auszuschließen. Gewiß sind
Konfliktsmöglichkeiten gegeben, und für die Praxis
kommt alles darauf an, das richtige Maß und die
richtige Abgrenzung zu finden. Auf keinen Fall
kann und braucht auch im modernen Staat die
Kirche von kultureller Betätigung sich abdrängen
und ihre reichen Lebenskräfte gerade auf diesem Ge-
biet sich einfach unterbinden zu lassen.
Literatur. Einen Typus des modernen Staats
zeichnet Jellinek, Allg. Staatslehre (21905) 316
bis 323. Einen geschichtlichen überblick über die
rechtliche Heranbildung u. Entwicklung des mo-
dernen Staats bietet R. Schmidt, Allg. Staats-
lehre II, TI II (1903) 568/886. Zur Stellung des.
modernen Staats zur kath. Kirche vgl. noch Ricker,
Die Stellung des modernen Staats zu Religion u.
Kirche (1895); W. Köhler, Katholizismus u. mod.
Staat (1908); Böckenhoff, Kath. Kirche u. mod.
Staat (1911). [Adolf Ott.)
Staatenverbindungen sind dauernd
oder vorübergehend eingegangene Vereinigungen
mehrerer selbständigen Staaten zur Erreichung fest-
bestimmter, gemeinsamer Zwecke. Vor dem Ende