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1900 tauchte sie aber von neuem auf, und zwar in
veränderter und wesentlich erweiterter Gestalt: die
Bürgerkunde war einbezogen in das Unterrichts-
prinzip der staatsbürgerlichen Erziehung, die nichts
Geringeres bezweckt als Vermittlung einer ge-
naueren Kenntnis unserer Staatseinrichtungen
sowie unserer sozialen und wirtschaftlichen Ver-
hältnisse und Weckung bzw. Schärfung des oft so
lauen sozialen und nationalen Gewissens durch
die Schule. Der Ruf nach dieser neuen Erzie-
hungsform ist in den letzten Jahren sowohl in der
politischen wie in der pädagogischen Presse immer
lauter erklungen, am lebhaftesten wohl im Jahre
1909, in dem sich am 26. Sept. in Goslar
eine „Vereinigung für staatsbürgerliche Erziehung
des deutschen Volks“ konstituierte. Da das Ver-
langen nach staatskundlichem Unterricht vielfach
den Stempel utilitaristischer und materialistischer
Weltauffassung an sich trug, auch von teilweise
maßlosen ÜUbertreibungen nicht frei war, traten
begreiflicherweise auch manche Gegner dieser Be-
wegung auf — nicht zum wenigsten in katholischen
Kreisen. Doch haben sich inzwischen die Verhält-
nisse soweit geklärt, daß man den Kern der For-
derung ziemlich allgemein nicht bloß als berechtigt,
sondern auch als wünschenswert anerkennt. Denn
unser in immer steigendem Mafß politisch interes-
siertes Zeitalter — „Politisierung der Gesellschaft"
ist zum modernen Schlagwort geworden — mit
seinem allgemeinen Wahlrecht, seiner vielverzweig-
ten Selbstverwaltung, seinen wirtschaftlichen Inter-
essenkämpfen usw. fordert gebieterisch die Kenntnis
unserer Staatseinrichtungen und die gewissenhaf-
teste Gewöhnung an pflichtgemäße Beteiligung
am öffentlichen Leben. Deshalb haben sich neben
den Staatsregierungen auch einzelne Parteien und
Körperschaften dieses Gegenstands bemächtigt. So
hat z. B. 1910 der Hansabund in seinen Orts-
gruppen eine Artvon staatsbürgerlichen Lehrgängen
eingerichtet, und auf Anregung Dr Friedr. Langes
hat sich in den Kreisen der Schulreformer im
Oktober des gleichen Jahres ein „Geschäftsaus-
schuß für Schulreform im Sinn staatsbürgerlicher
Erziehung“ gebildet, der die deutschen Regierungen
zu einem einheitlichen Vorgehen bewegen möchte.
Daß die Schule bei der Frage des staatskund-
lichen Unterrichts in erster Linie in Betracht
kommt, ist ganz natürlich; die bisher vielfach
zu beobachtende Unkenntnis unserer staatlichen
Einrichtungen und selbst der allgemeinsten Rechts-
begriffe, mit der die meisten unserer Schüler nicht
bloß die niedern, sondern auch die höheren Lehr-
anstalten verlassen, ist ebenso bedenklich wie be-
schämend. Durchdrungen von dieser Erkenntnis
haben die Schweiz und Frankreich bereits seit
langem die staatsbürgerliche Lehre als „Vaterlands-
kunde“ bzw. Instruction civique (verbunden mit
der Morallehre) in die Schulen als ein Hauptfach
aufgenommen. In Deutschland hat 1910 Sachsen
den neuen Unterricht für die höheren Schulen an-
geordnet, und Preußen hat vom Sommersemester
Staatsbürgerliche Erziehung.
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1910 ab wenigstens besondere Universitätskurse
für Staats= und Wirtschaftslehre (und in Ver-
bindung damit für Sozialrecht und Schulpolitik)
ins Leben gerufen, die für alle diejenigen bestimmt
sind, die beruflich mit staatsbürgerlichen und so-
zialen Fragen zu tun haben, in erster Linie aber
den Lehrern das nötige Rüstzeug für ihren Unter-
richt verschaffen werden. Die Handelshochschule
in Berlin hat schon im Herbst 1909 ein „Kon-
versatorium“ über Bürgerkunde eingerichtet, das
ür Handelslehrer bestimmt ist.
Da etwa 9t4% aller schulpflichtigen Kinder in
Deutschland die Volksschule besuchen, so wäre es
nicht recht, wenn man die gewaltige Zahl der Volks-
schüler (1906 waren es 9779356 in 61 198 Volks-
schulen), die im ehemaligen Fürstbistum Speyer
schon im 18. Jahrh. in Bürgerkunde unterrichtet
wurden, vom staatsbürgerlichen Unterricht aus-
schließen und diesen auf die höheren Schulen be-
chränken wollte. Das wäre auch gegen die Wünsche
der meisten Volksschullehrer. So wurde z. B. 1910
auf der 14. Hauptversammlung des Katholischen
Lehrerverbands des Deutschen Reichs einstimmig
eine Resolution über die Notwendigkeit des staats-
bürgerlichen Unterrichts für die Volksschulen an-
genommen. Diesem allgemeinen Verlangen leistete
6 der „Volksverein für das katholische Deutschland"“
Vorschub durch den ersten „Sozialwissenschaftlichen
Kursus für Lehrer“, den er zu deren Einführung
in die sozialen Zusammenhänge des Volks vom
5. bis 9. Sept. 1910 zu M.-Gladbach veranstaltete.
Daf die staatsbürgerliche Erziehung für die Fort-
bildungsschulen aller Gattungen wertvoll und an-
wendbar sei, unterliegt keinem Zweifel. Wünschens-
wert wäre, daß durch besondere Kurse (mit etwa
zwei Wochenstunden) auch in der Lücke zwischen
Fortbildungsschule und Kaserne noch etwas für
den staatskundlichen Unterricht geschähe. Die
höheren Schulen können erst recht Belehrung
über diese Dinge nicht entbehren; denn abgesehen
davon, daß viele Schüler mit dem Einjährigen-
zeugnis oder auch erst nach dem Abiturienten-
examen sich praktischen Berufen zuwenden, sind ja
auch die Universitäten zu einem großen Teil viel
zu sehr Fachschulen geworden, um den allgemeinen
Zusammenhang der verschiedenen Wissensgebiete
noch vollkommen aufrecht erhalten und in allen
Studenten Interesse für die in Rede stehenden
Verhältnisse erzeugen zu können.
II. Wesen und Ziel der sKaatsbürgerlichen
Erxziehung. Herrscht über die Nützlichkeit dieses
Unterrichts kaum noch nennenswerte Meinungs-
verschiedenheit, so gehen die Ansichten hinsichtlich
seines Wesens weit auseinander. Festzuhalten ist,
daß mit der staatsbürgerlichen Erziehung nicht
eigentlich etwas vollkommen Neues in die Schulen
aufgenommen wird. Eifrige Lehrer aller Schul-
gattungen, die in der Pflege des Intellekts nicht
ihre einzige Aufgabe sahen, sondern durch einen
lebensvollen und praktischen Unterricht allseitig für
das Leben erziehen wollten, haben von sich aus be-
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