1435 Staatsbürgerliche Erziehung. 1436
noch mit vorsichtiger Anpassung an die Fähig= tungen erscheinen“ (Kerschensteiner). — Eine wei-
keiten der Schüler — und in vollem Umfang der tere Frage ist die, ob der staatskundliche Unterricht
Oberstufe der neunstufigen Lehranstalten vorbehal= in besondern Stunden erteilt werden solle oder
ten bleiben müssen. Welcher innere Zusammen= nicht. Die Mehrzahl der Pädagogen scheint, so-
hang dagegen etwa zwischen Lehnswesen und viel ich sehe, aus berechtigter Scheu vor einer Ver-
Großgrundbesitz besteht oder zwischen Geldwirt= mehrung der Unterrichtsgegenstände nicht die von
schaft, Söldnerheer und Absolutismus, das ist den andern Fächern abgetrennte systematische Be-
allenfalls auch der Mittelstufe schon klar zu machen. handlung, die sich in der Prima zudem leicht zu
Auf der Unterstufe wird man wohl kaum weiter= einer vollständigen Nationalökonomie auswachsen
gehen können, als im Anschluß an den Unterricht könnte, sondern die gelegentliche Belehrung in den
in der griechischen und römischen Geschichte Auf= verschiedenen Unterrichtsstunden zu befürworten.
klärung zu geben über Begriffe wie Monarchie, Das tat 1910 bei den Etatsberatungen auch der
Republik, Aristokratie, Demokratie, Timokratie, preußische Kultusminister. Sachsen hat diesen
Tyrannis, Wehr= und Nährstand, Beamtenhier= Weg bereits eingeschlagen. Selbstverständlich ver-
archie, Ackerverteilung, Steuern, verschiedenes vom bietet dieser Modus keineswegs eine öftere, zu-
Heerwesen, Scheidung und Kampf der Stände sammenfassende Wiederholung des allmählich und
usw. Vor allem gilt es, in der Beschränkung die nebenbei Gelernten; die ist sogar dringend ge-
Meisterschaft zu zeigen. Begriffe erörtern, für die boten, da sie eine erwünschte Gelegenheit bietet,
das Verständnis noch fehlt, heißt Zeit totschlagen die Einzeltatsachen in die richtige innere Beziehung
und fördert die staatsbürgerliche Erziehung in zu setzen und harmonisch zu ordnen. Besonders
keiner Weise. Selbst in der Oberprima ist noch in der Volkeschule, die schon jetzt nur mit Mühe
unter den zu behandelnden Gegenständen vor= in ihren acht Schuljahren das ihr zugewiesene
sichtige Auswahl zu treffen; sind doch über Quantum materieller und formaler Bildung leisten
manche volkswirtschaftliche Begriffe, wie z. B. kann, wird es nicht möglich sein, zu den unent-
über das Kapital, selbst die Gelehrten noch nicht behrlichen alten eine neue Disziplin mit gesonder-
einig. tem Unterricht hinzuzufügen. In ihr muß dieser
III. Die praktische Gestaltung der staaks- neuzeitliche Stoff unbedingt dem Geschichts-, Re-
bürgerlichen Erziehung. Ist die Frage, wie ligions-, Deutsch-, Geographie= und Rechenunter-
der neue Unterricht praktisch durchzuführen sei, richt zugewiesen werden, der ja die nötigen An-
auch nicht eigentlich Sache des Staatslexikons, so # knüpfungspunkte in reicher Fülle bietet. — Auch
mögen der Vollständigkeit wegen doch wenigstens in den Fortbildungsschulen ist ohne Vermehrung
einige Richtlinien über diesen Gegenstand folgen. der Stundenzahl, die schon jetzt bei ständigem An-
Es stehen sich hier gegenüber zwei Gruppen: die wachsen des Stoffs kaum zur Erlangung einer
Theoretiker, die sich auch in diesem Fall nicht als gründlichen Fachbildung ausreicht, keine Zeit für
Exzieher, sondern lediglich als Lehrer fühlen und ein selbständiges neues Fach zu schaffen. Daher
genug getan zu haben glauben, wenn sie in einem müssen auch hier die Handhaben benutzt werden,
neu eingeschobenen Fach über staatsbürgerliche welche die einzelnen Unterrichtsfächer der staats-
Pflichten „Belehrung“ geben, und die Praktiker, bürgerlichen Erziehung bieten. So deckt sich, um
die überzeugt sind, daß für die Hauptaufgabe der nur eines zu erwähnen, in den kaufmännischen
staatsbürgerlichen Erziehung, die Erzielung staats= Fortbildungsschulen das Fach der Handelslehre
bürgerlicher Tugenden, das Tun, die Gewöhnung fast gänzlich mit dem, was auch der staatskundliche
das Wichtigste sei. Zu diesem Zweck werden von Unterricht zu bieten hat, ebenso die in diesen
manchen Seiten neben dem theoretischen Unterricht Schulen häufig als besondere Disziplin auf-
bestimmte Organisationen befürwortet, wie die auch tretende Volkswirtschaftslehre. Vielleicht ließe sich
an einigen deutschen Anstalten bereits erfolgte und aber wenigstens im letzten Jahr des Fortbildungs-
sich namentlich in der Rheinprovinz verallgemei= schulunterrichts zu den bisherigen Stunden eine
nernde Einführung der Selbstverwaltung (Selbst= neue hinzufügen, die, in der Hauptsache als Ge-
regierung) der Schüler und deren Zusammenschluß schichtsstunde (jüngste deutsche Vergangenheit) ge-
in Arbeitsgemeinschaften, in denen sie im Sinn der halten, zu einer Zusammenfassung und präziseren
viel erörterten „Arbeitsschule“ nicht mehr passiv in Prägung der in den übrigen Stunden behandelten
den Besitz von Kenntnissen geführt werden, son= staatsbürgerlichen Pensen Gelegenheit böte. Fort-
dern aktiv durch ihre persönliche Mitwirkung. Das gesetzt werden könnte diese bessere Systematisierung
glaubt man besonders durch Schülerwerkstätten, des Stoffs in den schon erwähnten Extrakursen,
Schulgärten und -laboratorien usw. zu erreichen, die zwischen Fortbildungsschule und Militärdienst
die den einzelnen in das Ganze einordnen, ihm dringend wünschenswert wären. — In den höheren
einen Begriff von „Arbeitsehre“ geben, und ihn Lehranstalten liegen die Verhältnisse ganz ent-
dadurch früh mit all dem ausstatten, was er später sprechend; nur ist der Geschichtsunterricht, dem
als Staatsbürger im praktischen Leben braucht. hier fast allein die staatsbürgerliche Erziehung zu-
Der Staatsverband soll dem Schüler gewisser= gewiesen werden müßte, in diesen Schulen ganz
maßen „nur als ein ins Riesenhafte vergrößertes besonders belastet. Und doch ließe sich am Schluß
Abbild des Schulverbands und seiner Einrich= der Untersekunda, nach deren Absolvierung eine
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