Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

1447 
d. Artt. Absolutismus; Konstitutionalismus; Ga- 
rantien, staatsrechtliche; Staat, der moderne). 
2. Die vorstehende Erörterung vertritt die An- 
sicht, daß der Staat selbst und als solcher das 
Subjekt der Staatsgewalt ist, und sie richtet sich 
gegen die Meinung, welche bis in die Neuzeit 
hinein Vertreter gefunden hat und welche die 
Staatsgewalt ausdrücklich mit dem Träger der- 
selben identifiziert. Staatsgewalt bedeutet alsdann 
Gewalt über den Staat, d. h. über „Land und 
Leute“. Nebenbei bemerkt, ist der Sprachgebrauch 
häufig schwankend, sodaß auch solche, die einer 
derartigen Gleichsetzung grundsätzlich abgeneigt 
sind, nicht selten von Staatsgewalt sprechen, wo 
sie den Träger derselben im Sinn haben. Hält 
man aber daran fest, daß beides nicht identisch ist 
und die Staatsgewalt ursprünglich dem Staat 
als solchem eignet, so folgt daraus doch nicht, daß 
dieselbe ihrem Träger vom Staat übertragen 
wurde oder übertragen werden mußte. Denn wo 
ein Staat ist, da besitzt er auch schon jenes oberste 
Organ, durch welches allein das Gemeinschafts- 
leben sich betätigen kann, welches daher, ohne daß 
es einer solchen Übertragung bedurft hätte, im 
Namen des Staats und für den Staat die Ge- 
walt ausübt. 
Im Gegensatz hierzu behauptet die Lehre von 
der sog. Volkssouveränität, daß der rechtliche Besitz 
der Staatsgewalt immer bei dem gesamten Volk 
sei und die Leiter des Staats ihre Funktionen 
lediglich im Auftrag des Volks ausübten, welches 
die ihnen übertragene Gewalt jederzeit zurückzu- 
nehmen befugt sei. Eine tatsächliche Unterlage 
besitzt die Anschauung im demokratischen Staat, 
wo die Volksversammlung das oberste Organ des 
staatlichen Lebens ist, welches die von ihr eingesetz- 
ten Beamten mit den einzelnen Funktionen des- 
selben betraut. Aber zunächst ist auch hier die 
Volksversammlung nicht das ganze Volk, sondern 
immer nur eine größere oder kleinere Minderheit; 
denn Frauen und Jugendliche pflegen ausgeschlossen 
zu sein, abgesehen davon, daß nicht alle zur Teil- 
nahme Berechtigten das Recht auch jederzeit aus- 
üben. Und sodann darf, was eine gewisse Analogie 
in der demokratischen Verfassung besitzt, nicht kurzer- 
hand zu einem Wesensbestandteil des Staats über- 
haupt gemacht werden. Das eben war der Fehler 
Rousseaus, welcher der Lehre von der Volkssouve= 
ränität die Formulierung gab, in der sie in der 
modernen Welt in die weitesten Kreise eindrang 
und seitdem dazu dienen mußte, Revolutionen und 
Staatsumwälzungen zu rechtfertigen. Ihre Wur- 
zeln gehen jedoch viel weiter zurück. Im Mittel- 
alter wurde ganz allgemein die Ansicht vertreten, 
Gott habe die Gewalt ursprünglich dem Volk 
verliehen, dieses aber übertrage dieselbe gleichsam 
naturnotwendig oder kraft eines göttlichen Gesetzes 
auf den Fürsten oder überhaupt auf die Obrigkeit, 
und die Meinung geht ausdrücklich dahin, daß 
der Fürst nur durch Übertragung von seiten des 
Volks die höchste Gewalt besitzen könne. Jedoch 
  
Staatsgewalt. 
  
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liegt der Unterschied auf der Hand, welcher die 
Lehre in dieser Gestalt von der späteren, Rousseau- 
schen trennt. Das Volk besitzt die Gewalt nicht 
als eignen Besitz, sondern infolge göttlicher Mit- 
teilung, und es überträgt dieselbe nicht nach eigner 
Willkür, sondern getrieben durch das Gesetz Gottes. 
Es war deshalb vollkommen unbegründet, wenn 
Ranke diese Lehre, welche von Bellarmin, Suarez 
und andern gelehrten Jesuiten vertreten wird, mit 
der revolutionären gleichsetzte und diese als eine 
dem Jesuitenorden eigentümliche bezeichnete. Bis 
in die neueste Zeit ist seine Behauptung nach- 
gesprochen worden. Tatsächlich wurde die Lehre 
von der Volkssouveränität in dieser Gestalt nicht 
von den Jesuiten erfunden, und ihre Absicht geht 
keineswegs dahin, das Volk von jeder höheren 
Autorität loszulösen und die staatliche Obrigkeit 
seiner Willkür auszuliefern. Allerdings aber stritt 
man schon seit dem 12. Jahrh. darüber, ohne zu 
einer Einigung gelangen zu können, ob das Volk 
befugt sei, die dem Fürsten übertragene Gewalt 
auch wieder zurückzunehmen, oder ob es sich durch 
den Akt der Übertragung ein für allemal derselben 
entäußert habe. In den religiösen Kämpfen des 
16. und 17. Jahrh. proklamierte die protestantische 
wie die katholische Opposition das Recht der Zurück- 
nahme, während die Vertreter des absoluten König- 
tums in dem einen wie in dem andern Lager das- 
selbe in Abrede stellten. 
Daß nun die Lehre auch in dieser Gestalt irrig 
ist, braucht nach dem, was in d. Art. Staat aus- 
geführt ist, keiner eingehenden Begründung mehr, 
und es verdient die schärfste Zurückweisung, wenn 
einzelne Autoren noch neuerdings den Versuch ge- 
macht haben, dieselbe als die „katholische Lehre“ 
hinzustellen (so J. Costa-Rossetti, Pbilosophia 
moralis, 2. Ausg., 579 f und H. R. QOuilliet, 
De civilis potestatis origine theoria catholica, 
1893; vgl. dagegen Cathrein S. J., Moralphilo= 
sophie II, 2. Abt., 2.B., 8 6). Staatliche Obrigkeit 
wird nicht durch einen solchen Akt der Ubertragung 
aufgerichtet, sondern sie erwächst naturgemäß mit 
dem Staat, ob derselbe nun allmählich aus der 
Familie hervorging oder durch Krieg und Gewalt- 
tat begründet wurde. Und die Pflicht, dieselbe 
anzuerkennen und sich ihren Anordnungen zu 
unterwerfen, stammt für die Bürger nicht daher, 
daß sie der Obrigkeit die Gewalt übertragen haben, 
sondern aus der sittlichen Ordnung, in welche der 
Staat als ein höherer, der Willkür der einzelnen 
entzogener Zweck einbeschlossen ist. Aber es läßt 
sich auch zeigen, woher das Mittelalter seinerseits 
die Lehre übernahm. Ihre Quelle ist das römische. 
Recht. Von Augustus bis Diokletian war die 
Fiktion aufrecht erhalten worden, als seien Volk 
und Senat noch immer die Träger der höchsten 
Gewalt. Juristen aus der Zeit Hadrians stellen 
den Satz auf, daß die Gesetze nur gelten, weil sie 
durch den Willen des Volks angenommen seien, 
und noch unter Kaiser Severus gründet Ulpian die 
Kraft der kaiserlichen Konstitutionen darauf, daß
	        
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