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das Volk seine Gewalt auf den Kaiser übertragen
habe. Der Ausspruch Ulpians: Quod principi
placuit, legis habet vigorem, utpote cum lege
regia, quae de imperio eins lata est, populus
ei et in eum omne suum imperium et pote-
statem conferat — fand Aufnahme in die Rechts-
sammlungen Justinians, und an ihn schlof sich die
mittelalterliche Staatslehre an. Wie so viele Ele-
mente der griechisch-römischen Kulturweltassimilierte
man sich die hier vorgefundene Formel und ordnete
sie unbedenklich in die eigne christlich-germanische
Gedankenwelt ein. In naiver Gleichsetzung mittel-
alterlicher Verhältnisse und Zustände mit denen
der früheren Zeiten läßt man sich auch nicht dadurch
beirren, daß auch in den Fällen, wo wirklich durch
Wahl die Staatsgewalt einer bestimmten Persön-
lichkeit übertragen wurde, diese Wahl nicht durch
das Volk im Sinn des Populus Romanus,
sondern durch eine Minderzahl bevorrechtigter Per-
sonen geschah. (Vgl. des Verf. Offenen Brief an
Prof. Ritschl zur Beantwortung der Göttinger
Jubiläumsrede, 1887, wieder abgedruckt in, Kleine
Schriften zur Zeitgesch. u. Politik“ 150 ff 154.)
3. Da die Staatsgewalt mit der Existenz des
Staats selbst gegeben ist, so ist sie unabhängig
von dem Leben der Personen, welche jeweilig ihre
Träger sind, und geht bei dem Tod derselben
sofort auf die Nachfolger über. In allen geord-
neten Staaten gibt es daher Bestimmungen über
die Art und Weise dieses Übergangs, d. h. über
die zur Nachfolge berufenen Personen. Wenn
solche Bestimmungen fehlen oder Störungen und
Umwälzungen den geordneten Gang des Staats-
lebens unterbrechen, kann der Staat nur dadurch
fortbestehen, daß sich eine Persönlichkeit oder eine
Mehrheit von Personen findet, welche sich der
Staatsgewalt bemächtigen und dieselbe als Ver-
treter des Staats und im Interesse der staatlichen
Gemeinschaft betätigen. Ein Beispiel aus der
Neuzeit bietet die provisorische Regierung in
Frankreich, welche sich nach der Gefangennahme
Kaiser Napoleons bildete. In solchen Fällen gilt,
daß die Aufrechterhaltung des Staats das Wich-
tigere ist, und die Frage, wer das bessere Recht
hat, Träger der Staatsgewalt zu sein, erst in
zweiter Linie steht. Es gilt ferner, daß die Pflicht
der Gehorsamsleistung auf seiten der Bürger ihren
Grund in der sittlichen Notwendigkeit des Staats
hat und durch die persönlichen Verbindlichkeiten
denen gegenüber, in deren Händen jeweils die
Staatsgewalt liegt, wohl gesteigert, aber nicht
zuerst und nicht ausschließlich begründet werden
kann (val. d. Artt. Legitimität, Usurpation).
Die Staatsgewalt ist ferner ihrem Begriff
nach einheitlich und unteilbar. Eine Zeitlang hat
zwar die entgegengesetzte Forderung einer Teilung
der Gewalten als die Summe politischer Weisheit
gegolten. Nachdem zuerst J. Locke dieselbe er-
hoben hatte, war es Montesquien (De Tesprit
de lois 11, 6), welcher ihr einen weitreichenden
Beifall sicherte. Er unterscheidet die gesetzgebende,
Staatsgewalt.
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ausführende und richterliche Gewalt und verteilt
sie an besondere und voneinander unabhängige
Träger, die Volksversammlung, den Monarchen
und die Gerichtshöfe. Nur wo diese Teilung,
wie vermeintlich in England, durchgeführt ist,
kann seiner Ansicht nach politische Freiheit be-
stehen. Der Irrtum, der hierbei unterlief, sofern
Montesquien in die englische Verfassung hinein-
trug, was dieselbe tatsächlich nicht enthält, kann
hier auf sich beruhen. Dügegen leuchtet sofort ein,
daß von einer Teilung der Gewalten nur in un-
eigentlichem Sinn gesprochen werden kann. Sollte
darunter eine solche Verteilung der Staatsgewalt
verstanden sein, daß keiner der drei Träger von
einem der beiden andern und die sämtlichen nicht
von einem gemeinsamen höheren abhängig wären,
so würde dies zu einer Auflösung des Staats
führen. Die Einheit blieb nur gewahrt, indem
man gleichzeitig das Prinzip der Volkssouveränität
heranzog. Dann ist die höchste Gewalt, die Staats-
gewalt im eigentlichen Sinn, bei dem gesamten
Volk, und jene unterschiedenen Gewalten sind in
Wahrheit nur verschiedene Funktionen der einen
Staatsgewalt, welche an verschiedene und von-
einander unabhängige Organe verteilt sind. So-
nach würde es sich wiederum nur um eine Ein-
richtung des demokratischen Staats handeln, nicht
um eine Forderung, welcher jeder wohlgeordnete
Staat zu genügen hätte. Aber auch in dieser Ein-
schränkung ist weder die Einteilung der Funk-
tionen eine zutreffende und vollständige noch die
gänzliche Unabhängigkeit derselben voneinander
bei gleichzeitiger Koordination durchführbar. Was
das erste betrifft, so wird die richterliche Tätig-
keit grundsätzlich von der ausführenden unter-
schieden, in Wahrheit aber handelt es sich auch
bei ihr nur um Anwendung, d. h. Ausführung
der Gesetze, und ebenso ist mit Gesetzgebung und
Exekutive, solange die letztere nichts zu tun hat,
als die von der ersten erlassenen Normen durch-
zuführen, das staatliche Leben nicht erschöpft; das
ganze Gebiet der Regierungstätigkeit im engeren
Sinn ist übergangen, welches sich durch tat-
sächliche Anordnungen im Unterschied von den
bloßen Erlassen rechtlicher Normen kundtut. So-
dann aber ist offenbar, daß, wenn die Exekutive
nur auszuführen hat, was die Gesetzgebung vor-
schreibt, ohne auf die letztere irgend welchen Ein-
fluß zu üben, das Organ der Gesetzgebung not-
wendig an die erste Stelle rückt und die Exekutive
ihr untergeordnet ist. Tatsächlich ist denn auch
in solchen Staaten die Volksvertretung Träger
der obersten staatlichen Gewalt. Wird dagegen
der Exekutive ein Veto gegen die Beschlüsse der
Volksvertretung eingeräumt, hat sie das Recht,
dieselbe zu berufen und aufzulösen, kann sie endlich
durch Initiativanträge und Entwürfe ihrerseits
an der Gesetzgebung positiv mitarbeiten, so ist das
Prinzip der gegenseitigen Unabhängigkeit auf-
gegeben. In den monarchischen Staaten dagegen
stellt sich jener Forderung von vornherein der