1501
lichen Freiheitsgedankens sind dort eigentlich nur
noch die Mönche, mit der gelegentlich scharf
betonten Theorie, die frühere innere Freiheit in
äußerer Verfolgung verdiene den Vorzug vor dem
Reichtum in der jetzigen unfreien Kirche. Im
Gegensatz hierzu treten im Westreich die Päpste
immer wieder für Freiheit und Selbständigkeit
der Kirche ein, ohne aber Trennung von Staat
und Kirche zu verlangen oder das Interesse der
Staatsgewalt an den kirchlichen Zuständen zu be-
streiten. Gestützt und gestärkt wurden die Päpste
in ihrer Opposition gegen das Staatskirchentum
teils durch realpolitische Machtverhältnisse, die den
Päpsten zugut kamen, teils durch den Kampf gegen
die heterodoxe Religionspolitik der Kaiser. Im
Herrschaftsgebiet arianischer Germanenfürsten er-
freute sich die römisch-katholische Kirche teilweise
der größten Freiheit, die ihr tatsächlich und prin-
zipiell zugestanden wurde. So unter Theoderich
d. Gr. (vgl. G. Pfeilschifter, Der Ostgotenkönig
Theoderich d. Gr. und die katholische Kirche, 1896;
ders., Theoderich d. Gr., 1910).
Ein neues Staatskirchentum entstand durch die
Verbindung des fränkischen Königtums mit der
Kirche; es erreichte seinen Höhepunkt in der
karolingischen Reichskirche. Die Könige
übten eine viel weitere Macht in kirchlichen Dingen,
als die Kaiser selbst in den letzten Zeiten des
römischen Staatskirchentums. „Es begann eine
völlige Vermengung weltlichen und geistlichen We-
sens unter der formellen Vorherrschaft des ersteren
(Reichstagsynode), aber weitgehendster sachlicher
Berücksichtigung der letzteren“ (Stutz, Kirchen-
recht, in Holtzendorff-Kohler, Enzyklopädie der
Rechtswissenschaft II I/1904] 838; ebd. An-
merkung 3 über den Unterschied des karolingischen
vom byzantinischen Staatskirchentum; Kampers,
Karl d. Gr. 11910] 93/107). Mit dem karo-
lingischen Reich zerfiel auch die karolingische Reichs-
kirche als solche; die kirchlichen Organe erlangten
in manchen Punkten größere Selbständigkeit, aber
der Hauptsache nach blieb man doch in der Praxis
auf dem Boden der staatskirchlichen karolingischen
Gesetzgebung, welche der Staatsgewalt weite Be-
fugnisse einräumte.
Von neuem wurde die staatskirchliche Organi-
sation gefestigt durch Otto d. Gr. Das Wesen
der „ottonischen Verfassungskirche“
charakterisiert sich nicht als Verhältnis der Staats-
gewalt als solcher zur gesamten Kirche des Reichs,
weshalb man in allerdings zu formalistischer Pres-
sung schon bestreiten wollte, daß man dieses Ver-
hältnis überhaupt als ein „staatskirchliches“ be-
zeichnen dürfe (Werminghoff, Neuere Arbeiten
über das Verhältnis von Staat und Kirche in
Deutschland während des späteren Mittelalters,
in Histor. Vierteljahrschrift XI ([1908) 153).
Das Wesen der „ottonischen Verfassungskirche"
liegt in der Verbindung des Königs mit den sog.
„Reichskirchen“", die — den einflußreichsten und
mächtigsten Teil der deutschen Kirche bildend —
Staatskirchentum.
1502
in die Organisation und Verfassung des Reichs
verwoben waren und über die der König halb
öffentlichrechtlich, halb privatrechtlich eine Herr-
schaft in persönlicher (Stellenbesetzung) und in
sachlicher Weise (Nutzbarmachung des Kirchenguts
für die Zwecke des Reichs) ausübte (ogl. Werming-
hoff a. a. O. 153; ders., Verfassungsgeschichte
der deutschen Kirche im Mittelalter, in Meisters
Grundriß der Geschichtswissenschaft II (19071 6,
5* 23/24; desselben Mrfassers größeres Werk:
Geschichte der Kirchenverfassung Deutschlands im
Mittelalter 1 [1905|]; bis jetzt einziger Band).
Dieses Verhältnis und die Art seiner Betäti-
gung brachte die deutsche Kirche in immer größere
Abhängigkeit von der Staatsgewalt. Es ist gewiß
begreiflich, daß die Kirche den Kampfumihre
Freiheit unternommen hat, um so mehr als
überhaupt das Lehnswesen insbesondere unter
dem Einfluß der germanisch-rechtlichen Auffassung
vom „Eigenkirchentum“ den inneren Organismus
der Kirche in seiner Selbständigkeit zu erdrücken
und zu ersticken drohte. (Daß die germanischen
Anschauungen vom „Eigenkirchentum“ die ganzen
damaligen Rechtsverhältnisse der deutschen Kirche
charakteristisch beeinflußten und durchdrangen, wird
zurzeit mit U. Stutz, dem Begründer der Eigen-
kirchentheorie, fast allgemein angenommen; einen
kritischen Standpunkt gegenüber dem Maß dieses
behaupteten Einflusses vertritt unter anderem E.
Eichmann; vgl. „Köln. Volkszeitung“, Liter. Bei-
lage 1908, Nr 16. — Gegen die Zurückführung
des Eigenkirchentums auf germanisch-arianische
Grundlagen durch H. v. Schubert wendet sich U.
Stutz in der Kritischen Studie „Arianismus und
Germanismus“, in Internationale Wochenschrift
1909, Sp. 1561/82, 1615/22. 1633/48;
hier auch zur ganzen Frage reichste Literatur=
angaben.) Freilich die von Gregor VII. gegen
das Staatskirchentum erhobenen Forderungen
konnten bei dem großen Interesse des Königs an
den Reichskirchen nicht durchdringen. Eine dok-
trinär korrekte Scheidung von Geistlichen und
Weltlichen sahen die späteren Abmachungen von
Sutri (im Jahr 1111) vor; auf sie ließen sich
aber ihrerseits die Bischöfe nicht ein, da sie auf
ihr Reichsfürstentum nicht verzichten wollten. Der
Ausgang des Kampfs brachte der Kirche doch
eine größere und jedenfalls eine grundsätzliche
Freiheit. Während der König die weltliche Herr-
schaft über das Reichskirchengut und auch einen
gewissen Einfluß auf die Besetzung der Bischofs-
stühle behielt, erreichte die Kirche, daß die Be-
etzung der Bischofsstühle als wesentlich inner-
kirchliche Sache anerkannt und grundsätzlich wenig-
stens innerkirchlichen Instanzen (kanonische
Wahlh überlassen wurde. In dieser grundsätzlichen
Anerkennung der kirchlichen Selbständigkeit liegt
die prinzipielle Bedeutung des Wormser Konkor-
dats (1122) gegenüber dem Staatskirchentum.
(Über die beabsichtigte und tatsächliche Dauer der
dem König pöäpstlicherseits zugestandenen Befug-