Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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3. Regelmäßig wird in erster Reihe auch Gournay 
genannt, der jedoch in wesentlichen Punkten andere 
Wege einschlug. 
4. Ein Anhänger des Systems von größerer 
Bedeutung war ferner der ältere Mirabeau, der 
Verfasser des Werks L'ami des hommes. 
Außerhalb Frankreichs sind zu nennen: 
5. Der Baseler Ratschreiber Iselin (Traum 
eines Menschenfreundes 1759) und 
6. der Deutsche Schlettwein, Kammerrat des 
gleichfalls physiokratisch grsnte Markgrafen Karl 
Friedrich von Baden (1738/1811). 
Außerdem verdienen usatlnn) die Franzosen 
Dupont de Nemours, Mercier, Abbé Baudeau, 
Abbé Morellet, Condorcet. 
Als Kern der Theorie, wie sie Quesnay ent- 
wichite. können folgende Lehren angesehen werden. 
I. Die allgemeinen philosophischen Vor- 
’ “7 und ihre Anwendung. Es gibt 
keinen Unterschied zwischen Natur= und Geistes- 
wissenschaften in dem Sinn, als wäre man nur 
dort berechtigt, von Gesetzen zu sprechen. Wohl 
sind moralische und physische Gesetze voneinander 
verschieden, aber auch erstere sind natürliche Gesetze 
und beide Kategorien stehen in Harmonie. Auch 
in den Geisteswissenschaften ist somit die exakte 
Forschungsmethode und nicht die historische anzu- 
wenden. Die obersten, für das gesamte mensch- 
liche Handeln geltenden Prinzipien, diese ab- 
soluten Normen, sind vor ihrer Verwirklichung im 
göttlichen Weltplan vorhanden und bleiben stets 
in Kraft. Sie sind durch die Vernunft zu er- 
kennen und haben ihre Macht in ihrer Evidenz. 
Die Erfahrung, die zu diesen evidenten Erkennt- 
nissen führt, ist die eine Erkenntnisquelle; die 
andere, davon getrennte, ist der Glaube; seine 
Quelle wiederum ist die göttliche Offenbarung 
und sein Zweck die Erreichung des jenseitigen, 
ewigen Lebens. Für das diesseitige Leben sind 
zwei Ordnungen zu unterscheiden, or dre na- 
turel und ordre positif; die natürliche 
Ordnung umfaßt die oben charakterisierten, evi- 
denten Gesetze, die das gesellschaftliche Leben nor- 
mieren. Die natürliche Ordnung ist durch die 
positive zu verwirklichen: im großen und ganzen 
die stoischen Ideen von einer natürlichen Ordnung, 
wie sie besonders von Cicero verwertet und von 
den christlichen Schriftstellern des Altertums und 
Mittelalters weitergebildet worden sind. Der 
Grundgedanke geht also dahin, daß der natür- 
lichen Ordnung oder der „Natur“ die herrschende 
Stellung einzuräumen sei. Diese Maxime wird 
sowohl auf dem politischen wie ökonomischen Ge- 
biet durchgeführt. 
1. Rechts= und Staatsphilosophie. 
Quesnay knüpft in üblicher Weise an die Theorie 
vom Urzustand an. Während Hobbes eine mit 
dem Augenblick des staatlichen Zusammenschlusses 
erfolgende Verminderung der natürlichen Rechte 
angenommen hatte, behauptet er ihre Steigerung. 
Im Naturzustand besitzt nämlich jeder nur, was 
Physiokraten. 
  
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er durch Arbeit sich erwirbt, sicherlich nicht mehr, 
als er zum Leben bedarf. Schließen sich die 
Menschen zur Sicherung ihrer natürlichen Rechte 
zusammen, so wird das Grund= und Urrecht 
auf Eigentun befestigt und damit seine Kraft 
und sein Wert erhöht. Auf das, was zur Existenz 
erforderlich ist, hat jeder ein unbedingtes Recht; 
kann er selbst diese Mittel sich nicht verschaffen, so 
hat zunächst die Familie, sekundär die Gesellschaft 
die strikte Pflicht, diese Mittel zu gewähren. Jeder 
hat sodann das natürliche Recht, sich über das 
nötige Maß hinaus Eigentum zu erwerben; die 
daraus entstehende Ungleichheit ist segensreich und 
von Gott gewollt; denn sie ist die Vorbedingung 
des Kulturfortschritts und für den Armen ein 
Ansporn. Die Hauptaufgabe des Staats ist der 
Schutz der Bürger gegen gewaltsame Angriffe von 
außen und gegen ungerechte Eingriffe Dritter in 
ihre Rechte. Die beste Verfassung stellt ein pou- 
voir absolu réglé par les lois dar, ein Ideal, 
abgeleitet aus der Tatsache der absoluten Herr- 
schaft Gottes über die Welt. Für die positive 
Gesetzgebung bildet das Naturgesetz die unbedingt 
maßgebende Norm. Die Jurisprudenz sollte darum 
ihre Hauptaufgabe in der Erforschung des ordre 
naturel und nicht in der der veränderlichen mensch- 
lichen Gesetze erblicken. 
2. Dieselben allgemeinen Prinzipien werden auf 
das wirtschaftliche Leben angewendet. Als Ziel 
hat hier die möglichst hohe Steigerung der natio- 
nalen Wohlfahrt zu gelten. Hierzu ist ein Zwei- 
faches erforderlich, einmal positiv, die Bodenkultur 
so ergiebig als nur möglich zu machen, und nicht 
etwa, nach Art der Merkantilpolitik, möglichst viel 
Geld anzusammeln, was den nationalen Wohl- 
stand weder bewirkt noch sichert, wie die Zustände 
Spaniens und Frankreichs bewiesen; anderseits 
negativ, unberechtigte Eingriffe Dritter fernzu- 
halten. Letzteres ist die Aufgabe des Staats, der 
zu diesem Zweck die Rechtsordnung aufstellt; der 
höchste Wohlstand aber kann nur dadurch erreicht 
werden, daß die Betätigung des Eigeninter- 
esses freigegeben wird, mit der einen Beschrän- 
kung, daß fremde Rechte nicht verletzt werden. 
Was die drei großen Wirtschaftszweige anbelangt, 
so ist die eigentlich produktive Tätigkeit nicht das 
Gewerbe oder der Handel, sondern der Ackerbau. 
L’'agriculture est la source de toutes les 
richesses. Nur die landwirtschaftliche (dazu ge- 
hört natürlich auch z. B. die forstwirtschaftliche) 
Tätigkeit schafft nämlich neue materielle Güter 
und damit neue Werte; sie allein wirft Reinertrag 
(produit net) ab. Die Funktion von Handel 
und Gewerbe erschöpft sich in Bewegung und 
Veränderung der Stoffe und Waren jener trans- 
loziert, dieses konzentriert schon vorhandene, durch 
die landwirtschaftliche Tätigkeit dank der im 
Boden ruhenden Naturkraft gewonnene Werte. 
Das industrielle Produkt ist gleich dem Wert des 
Materials plus Arbeitslohn, dazu die Kosten der 
Abnutzung von Geräten, Kleidern usw.; der Wert 
. 
 
	        
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