Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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Gerät der Arbeiter ohne seine Schuld in Not, so 
ist, wie oben bemerkt wurde, die Gesellschaft kraft 
natürlichen Rechts verpflichtet, ihm den notwen- 
digen Lebensunterhalt zu gewähren. Ein „Recht 
auf Arbeit“ hat der einzelne allerdings in dem 
Sinn, daß der Staat alle diesem Recht entgegen- 
stehende Schranken niederzulegen gehalten ist, nicht 
jedoch im sozialistischen Sinn, als müßte der 
Staat im Notfall für angemessene Arbeitsgelegen- 
heit und entsprechenden Lohn sorgen. 
III. Die physiokratische Schule. Das Sy- 
stem, wie es Quesnay entwickelt hat, wurde nicht 
überholt, nur modifiziert und in gewissen Haupt- 
punkten von einzelnen Schülern mit größter Ein- 
seitigkeit verfochten. Waren bei Quesnay die 
Forderungen der freien Konkurrenz und des freien 
Handels noch nicht als absolute Vorschriften für 
die positive Ordnung aufgetreten und findet sich 
bei ihm das Wort laissez faire, laissez passer 
nur einmal und nur als Zitat, so vollzieht sich 
hierin bald eine wesentliche Anderung: die „natür- 
liche Ordnung“ gelangt zur Alleinherrschaft im 
System und nur das Absolute wird betont. Dies 
trug der Schule häufig mit Recht scharfen Vor- 
wurf ein, indem sie als einseitig und verschroben 
doktrinär bezeichnet wurde. Im einzelnen sei noch 
bemerkt, daß insbesondere Mirabeau das laissez 
faire, laissez passer zur Parole machte. Läßt 
man die natürlichen Gesetze ungehemmt walten, so 
fördert man ebendamit das Wohl der Gesamtheit, 
während ein Eingreifen der Regierung nur störend 
wirken kann. Eigeninteresse und Gemeininteresse 
stehen in letzter Linie in vollkommener Harmonie, 
so im ganzen Wirtschaftsleben und so auch ins- 
besondere beim Handel. Eine hervorragende 
Stellung unter den Physiokraten nimmt Turgot 
ein. Als Minister, der mit den Tatsachen des 
wirtschaftlichen Lebens zu rechnen hatte, mußte 
ihm ein derart einseitiger Doktrinarismus fremd 
sein; er hat sich ähnlich, wie Colbert von den 
schroffen Einseitigkeiten des Merkantilismus, von 
denen seiner Schule freizuhalten gewußt. Es ge- 
lang ihm, Handelsfreiheit für Getreide herzu- 
stellen; dagegen brachte ihn das Ungestüm, womit 
er gegen die Zünfte vorging und an sich notwen- 
dige Reformen in die Hand nahm, zu Fall. Durch 
seine Ansichten über verschiedene Materien auf 
volkswirtschaftlichem Gebiet hat Turgot die Wissen- 
schaft gefördert, so durch seine Arbeitsteilungs-, 
Geld-, Grundrenten-, Kapital= und Kapitalzins- 
lehre, ebenso durch seine Lohntheorie; durch letztere 
wurde er der Vorläufer Ricardos, durch die andern 
Theorien Vorgänger von Adam Smith. In der 
sozialen Gliederung der Gesellschaft und in der 
Anschauung von der allein produktiven landwirt- 
schaftlichen Tätigkeit folgt er Quesnay. Gournay 
tritt für die Befreiung der Industrie von den 
staatlichen Schranken ein, hält aber auch jene, 
nicht nur den Ackerbau, für produktiv. Ebenso 
ist er im Gegensatz zu Quesnay Anhänger der 
Handelsbilanzlehre. Dagegen huldigt auch er 
  
Phosiokraten. 
  
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wiederum der Ansicht, daß im freien Handel stets 
das vernünftige Privatinteresse mit dem der Ge- 
samtheit harmoniere. 
IV. Würdigung. Eine gerechte und billige 
Beurteilung des Systems hat davon auszugehen, 
daß der Physiokratismus die natürliche und in 
gewissem Maß notwendige Reaktion war gegen 
die Merkantilpolitik mit ihren für das Wirtschafts- 
leben schließlich geradezu verderblichen Wirkungen. 
Es wäre darum unbillig, das System vom heutigen 
Standpunkt der Wissenschaft aus einseitig einer 
allzu scharfen Kritik zu unterziehen. Neben dem be- 
reits angedeuteten Verdienst ist ein zweites nicht 
minder bedeutendes hervorzuheben, das darin be- 
steht, daß Quesnay zum erstenmal den Versuch 
eines Gesamtüberblicks des volkswirtschaftlichen 
Prozesses unternommen und ein eignes wissen- 
schaftliches System aufgebaut und begründet hat; 
will man Quesnay nicht als Begründer der Volks- 
wirtschaftslehre als Wissenschaft gelten lassen, so 
bedeutet doch jedenfalls sein System einen großen 
Fortschritt auf dem Weg der Entwicklung der 
Disziplin zur selbständigen Wissenschaft. Dazu 
hat sicherlich auch beigetragen seine Theorie von 
den wirtschaftlichen Gesetzen; Ideen, die später 
von Adam Smith, Ricardo, Malthus erfolgreich 
verwertet worden sind und auch der deutschen 
Wissenschaft Dienste geleistet haben. Freilich geht 
es nicht an, diese Gesetze auf gleiche Stufe mit 
den Naturgesetzen zu stellen; daß es jedoch im 
volkswirtschaftlichen Leben gewisse regelmäßige Er- 
cheinungen gibt, die man als wirtschaftliche „Ge- 
setze" mit Anbringung der nötigen Kautelen be- 
zeichnen und fassen kann, wird allerdings nicht zu 
bezweifeln sein; aber auch so ist noch zu scheiden 
zwischen „Gesetzen“ des Sollens, d. h. sittlichen 
Geboten, und den aus natürlichem Selbstinteresse 
hervorgehenden Gesetzen des Geschehens (z. B. das 
Gesetz der Gravitation oder Tendenz der Preise 
nach gewissen Kosten). Daß nach dem heutigen 
Stand der Wissenschaft die Lehre von der allein 
produktiven landwirtschaftlichen Tätigkeit sowie 
das einseitige laissez faire-Prinzip irrig und ver- 
werflich, und daß das Projekt von der einzigen 
Steuer verfehlt und undurchführbar ist, braucht 
kaum gesagt zu werden. Hätten die Physiokraten 
die historische Methode nicht vernachlässigt, ja ver- 
worfen, so hätte sie schon ein Blick auf die Ge- 
schichte des Altertums — von allen andern Er- 
wägungen abgesehen — belehrt, daß jenes Prinzip 
die Gesellschaft in unheilvoller Weise zerklüften 
und damit die Gefahr der Revolution und schließ- 
lich die des Ruins für den Staat heraufbeschwören 
muß. Ein von Markgraf Karl Friedrich von Baden 
in einigen Gemeinden unternommener Versuch mit 
der einzigen Steuer scheiterte kläglich. Von großer 
praktischer Bedeutung wurde dagegen das von den 
Physiokraten vertretene Freihandelsprinzip, das 
später namentlich in England auf dem Gebiet der 
Wissenschaft wie der Politik eine große Rolle 
spielen sollte. 
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