Full text: Staatslexikon. Vierter Band: Patentrecht bis Staatsprüfungen. (4)

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nehmbaren Mannigfaltigen nach seinem Neben- 
einander und Beieinander das volle dem Menschen 
mögliche Verständnis des Weltgeschehens bietet, 
sondern daß dieses erst dann erreicht wird, wenn 
vermittels des gottgegebenen Vernunftlichts, d. h. an 
der Hand der eigentümlichen Vernunftprinzipien, 
die mechanische und teleologische Gesetzmäßigkeit 
als solche anerkannt und als Widerschein vorbild- 
licher göttlicher Urgedanken begriffen wird. 
Indem nun Plato jenes Ideenreich gegenüber 
der wechselnden Erscheinungswelt ontologisch als 
das allein Seiende, d. h. nicht Werdende, sondern 
Bestehende, ethisch als das allein wahrhaft Gute 
wertet, ergibt sich ihm die Forderung, unter Hint- 
ansetzung der Erscheinungswelt Denken und Wollen 
allein dem Jenseitigen zuzuwenden. Darin liegt 
einmal der religiöse Zug begründet, welcher der 
Philosophie Platos und später dem erneuerten 
Platonismus eigentümlich ist, und der seinen 
schönsten Ausdruck in der Forderung des Dialogs 
„Theätet“ (176 A) findet: möglichst schnell vom 
Diesseits in das Jenseits zu fliehen durch Ver- 
ähnlichung mit Gott in Weisheit, Gerechtigkeit 
und Frömmigkeit. Ebenso haben aber auch die 
wesentlichsten Mängel der Platonischen Denkungs- 
art hier ihre Wurzel. Jener Gegensatz des Idealen 
und des Empirischen wird von Plato allzuschroff 
betont und zu sehr als ein ausschließender ge- 
faßt. Damit verbindet sich die (vom späteren 
Platonismus noch gesteigerte) Vorstellung, daß 
das Körperliche als solches der Quell aller 
Unordnung und des Bösen sei. Infolgedessen 
wird der Philosoph verleitet, auf theoretischem 
Gebiet die Bedeutung der Erscheinungswelt für 
die Erkenntnis im allgemeinen und auch für die 
Erkenntnis des über ihr Liegenden zu niedrig 
einzuschätzen. Dem entspricht es, daß er auf dem 
Gebiet des Wollens für ein aktives Eingreifen in 
die tatsächlich gegebenen Verhältnisse die rechten 
Mittel und Wege nur selten zu finden weiß und 
dieses Streben selbst in übertriebenem Pessimis- 
mus und falschem Quietismus bei den bestehenden 
Zuständen zu schnell für aussichtlos und unratsam 
ansieht. Daraus begreift sich auf dem theoretischen 
Gebiet die geringe Pflege der naturhistorischen 
und geschichtlichen Forschung seitens Platos, durch 
deren ausgedehnteste Berücksichtigung später Ari- 
stoteles von der Einseitigkeit des Platonischen 
Standpunkts abgedrängt wurde, und ebenso 
auf praktischem Feld die Ungeschicklichkeit und 
Naivität, mit der Plato den Anforderungen des 
wirklichen Lebens gegenübersteht. So ergibt sich 
aus der Grundlehre des Platonischen Systems, 
der Ideenlehre, der Platonische Idealismus mit 
all seinen Vorzügen und Mängeln, jene Den- 
kungsart, die wegen ihres erhabenen, um ge- 
meine materielle Bedenken unbekümmerten ethi- 
schen Hochflugs unsere warme Bewunderung her- 
ausfordert, anderseits aber wegen ihrer jeder, 
auch der notwendigen Rücksicht fremden Kon- 
sequenz und ihrer praktischen Unbehilflichkeit dem 
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl. 
Plato. 
  
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Kenner des wirklichen Lebens leicht als leere 
Träumerei erscheinen kann. 
Seinen klaren Ausdruck findet dieser Idealis- 
mus in der Staatsphilosophie Platos, insbeson- 
dere in seinem Entwurf des Ideals eines besten 
Staats. Für diese Staatsphilosophie kommen von 
den Platonischen Dialogen, da der Staatsroman 
„Kritias“ ein Fragment geblieben ist, besonders 
in Betracht der „Staat“ oder die „Republik“ 
(Koyrela), der „Staatsmann" (noh)##rté4) und die 
„Gesetze“ (Vôotot, leges). 
Diejenige staatsphilosophische Schrift, in der 
sich die ganze Eigenart Platos am allseitigsten 
ausspricht und die durch ihre metaphysischen, 
ethischen, soziologischen und erkenntnistheoretischen 
Gedanken für die Folgezeit von größter Bedeu- 
tung geworden ist, ist der „Staat“ (Politeia), 
nach den „Gesetzen“ das umfassendste Werk Pla- 
tos, dessen Entstehung vermutlich nicht in einem 
Zug erfolgte, sondern in verschiedenen Schichten 
durch eine Reihe von Jahren sich hinzog (so Fr. 
Hermann, Krohn, Teichmüller, Usener, Rohde, 
Pfleiderer, Immisch, Siebeck, Dümmler, Christ 
u. a.; dagegen Zeller, Campbell, Hirmer, Luto- 
stawski, Gomperz, Räder u. a.). Als ein groß- 
artiger und umfassender Gedankenbau behandelt 
die Schrift in vielfach verschlungener Entwicklung 
das ethisch-politische Leben des einzelnen und der 
Gemeinschaft (Inhaltsangaben von Räder, Pla- 
tons philos. Entw. I1905] 181 ff und C. Ritter, 
Platos Dialoge II 1, der Staat (1909.). 
Zur philosophischen Behandlung des Staats- 
problems wird Plato nicht durch das bei Aristo- 
teles so lebhafte analytische Interesse einer Klassi- 
fikation und genetischen Entwicklung des empirisch 
gegebenen und in seiner konkret bedingten Eigen- 
art zu würdigenden Wirklichen geführt. Auch die 
rechtstheoretische Seite der Frage nach dem juristi- 
schen Wesen des Staats — welch letzteren er sich, 
wie es scheint, durch Einrichtung auf einer Ver- 
sammlung entstanden denkt — ist ihm gleichgültig; 
er bezeichnet ihn mit den üblichen Ausdrücken als 
Gemeinschaft Ccorvola, 371 B) oder Verbindung 
(6öv#e#opos, 520 A), ohne diese Begriffe staats- 
rechtlich näher zu erklären. Ihn beschäftigt der 
Staat nur nach der ethischen Seite. Konstruktiv“ 
und gesetzgeberisch sucht er eine Organisation zu 
entwerfen, durch welche die Idee der Gerechtigkeit 
in der sittlichen Gemeinschaft verwirklicht werden 
könnte. Wenn Plato bei dieser Konstruktion — 
in der Republik wie in den Gesetzen — nicht einen 
Staat vom Umfang der orientalischen seiner Zeit 
oder der modernen Staaten ins Auge faßt, sondern 
(wie Aristoteles in den „Politika“) über den 
Stadt= oder den Kantonalstaat nicht hinausgeht, 
so liegt das in den griechischen Verhältnissen. 
Jene organisierte sittliche Gemeinschaft aber hat 
bei Plato im Prinzip nicht eine auf sie selbst be- 
zogene und in ihr selbst sich vollziehende Aufgabe, 
im Unterschied von den durch die Individualethik 
gesorderten Pflichten der einzelnen. Seine ethische 
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