Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben, kurz 
gesagt, deren einigendes Band in der Tradition 
und Erblichkeit zu erblicken ist (Fuchs); die 
Ständeschichtung wurzelt hauptsächlich in der An- 
gehörigkeit zu demselben Beruf (Schäffle); wir 
denken dabei insbesondere an die Stände der so- 
zialen Schutztätigkeit, die liberalen Berufsstände 
usw., Stände, die durch die moderne Klassenbil- 
dung keineswegs aufgehoben oder aufgesogen wor- 
den sind. Es wäre demnach „Stand“ mehr ein 
Kulturbegriff und ein historisch-politischer Begriff. 
Klasse mehr ein moderner, spezifisch wirtschafts- 
wissenschaftlicher Begriff. Nun reden wir aller- 
dings auch von einem „dritten Stand“ und 
von einem „vierten Stand“, desgleichen von 
einem „Mittelstand“. Vor der Zeit der fran- 
zösischen Revolution von 1789 waren bekanntlich 
die Mitglieder des Adels und der hohen Geistlich- 
keit als „erster“ und „zweiter“ Stand fast steuer- 
frei, sie besaßen nur noch Privilegien, trugen aber 
keine Lasten, während auf den Bürgern und 
Bauern, dem sog. „dritten Stand“, die Staats- 
lasten fast ausschließlich ruhten. Der Bourgeeisie, 
durch die Revolution (1789) auf den Schild er- 
hoben, trat späterhin der „vierte Stand“, d. h. 
die große Gruppe oder Klasse der zum Bewußt- 
sein ihrer Kraft und Bedeutung gelangten Ar- 
beiter, entgegen (1848). Dieser Sprachgebrauch 
ist nicht einwandfrei, aber insofern begreiflich, als 
die neu sich bildenden Gruppen wirklichen „Stän- 
den“ gegenübertraten. Ganz verwirrend aber ist 
die Bezeichnung der mittleren Klasse als „Mittel- 
stand“, da sich dieser nur vom finanziellen Ge- 
sichtspunkt aus mit einiger Sicherheit erfassen läßt. 
Im Vordergrund des Interesses stehen heutzutage 
nicht mehr die Stände — die Erb= und Geburts- 
stände haben ihre Privilegien im wesentlichen ein- 
gebüßt —, sondern die Klassen, „ein Hauptmerk- 
mal der Herrschaft moderner Geldwirtschaft"“ 
(Traub). Die modernen Klassen nun stehen ein- 
ander, was die gesellschaftliche Wertschätzung an- 
langt, nicht gleich; vielmehr hat sich auch hier eine 
gewisse Rangordnung, eine Über= und Unterord- 
nung ganz von selbst geltend gemacht: der Ein- 
fluß, der „Rang“, die Geltung der Klassen ist 
verschieden entsprechend ihrer sozialen Funktion. 
Diese gesellschaftliche Rangordnung ist als ein 
wichtiges Begriffsmerkmal zu betrachten und zu 
betonen. Obwohl es eigentlich sich von selbst ver- 
steht, sei doch noch ausdrücklich hervorgehoben, daß 
die Begriffsbestimmung der Klasse, wie sie hier 
versucht wurde, nur für die Gegenwart zutrifft; 
nur auf diese hatten wir das Augenmerk bei jener 
Bestimmung zu richten. 
Von dem dargelegten Standpunkt aus lehnen 
wir ab: 
a) Die Auffassung, wonach der gleiche Beruf 
für die ihm Angehörenden einen gemeinsamen 
physischen und moralischen Typus schafft und so 
die Bildung der Klassen herbeiführt (A. Bauer). 
Berufsgliederung und Klassenschichtung decken sich 
Stände. 
  
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keineswegs. Nach der Statistik hat sich die Zahl 
der Berufe außerordentlich gesteigert, nicht so die 
der Klassen. Viele gehören zum nämlichen Beruf, 
aber nicht zur nämlichen sozialen Klasse. 
b) Ebenso ungenügend ist die Erklärung, der- 
zufolge der instinktive Glaube an eine soziale Hier- 
archie die Quelle der Klassenbildung wäre (Tarde). 
Solche Vorstellungen spielen ja herein, der Hin- 
weis darauf vermag jedoch allein für sich das 
Problem nicht allseitig aufzuhellen. 
P) Nicht viel glücklicher ist der Gedanke, im 
Reichtum schlechthin das objektive Mittel zu er- 
kennen, die soziale Schicht, der jemand angehört, 
und deren Rangstufe zu bestimmen (Worms). 
Die Unterscheidung von reich und arm wird der 
verwickelten sozialen Klassenschichtung unserer Tage 
nicht gerecht. 
4) Die sozialistische Klassentheorie geht von 
manchen richtigen Wahrnehmungen aus. In der 
Tat ist die gemeinsame Basis der sozialen Klassen 
heutzutage im wesentlichen wirtschaftlicher Art, 
wenn auch das ausschließlich betonte Merkmal 
(Besitz oder Nichtbesitz der Produktionsmittel) nicht 
ausreichen dürfte. Aber nicht zuzugeben ist vom 
christlichen Standpunkt aus, daß der Klassenkampf 
natürlich und notwendig und Gesetz der sozialen 
Entwicklung sei; ebensowenig kann eingeräumt 
werden, daß dieser Klassenkampf mit der Beseiti- 
gung aller Klassen endigen werde; doch werden 
wir hierauf noch zurückkommen. 
e) Schmoller erklärt (Grundriß der allgemeinen 
Volkswirtschaftslehre 1, 7./10. Taufend, Leipzig 
1908, 425): „Wir verstehen unter sozialen 
Klassen diejenigen größeren Gruppen einer ar- 
beitsteiligen Gesellschaft, die sich nicht nach Blut, 
Geschlecht, Verwandtschaft, nicht nach Religion, 
nicht nach Orts-, Kreis-, Provinzial= und Staats- 
zusammengehörigkeit bilden, sondern die durch 
gleiche oder ähnliche Eigenschaften und Lebens- 
bedingungen, durch gleiche oder ähnliche Berufs- 
und Arbeitstätigkeit, durch gleiche oder ähnliche 
Besitzart oder Besitzgröße, durch gleiche oder ähn- 
liche Art der Einfügung in die Ordnung der 
Volkswirtschaft und des Staats, durch gleichen 
oder ähnlichen Rang der hierarchischen Gesell- 
schaftsordnung, durch gleiche oder ähnliche Inter- 
essen aller Art ein Bewußtsein der Zusammen- 
gehörigkeit haben und dem Ausdruck geben.“ Daß 
diese etwas umfangreiche Definition viel Richtiges 
enthält, ist nicht zu bestreiten. Aber Schmoller 
scheint einerseits nicht oder zu wenig zwischen 
Klasse und Stand zu unterscheiden und anderseits 
nicht immer die beiden Fragen scharf zu trennen, 
was ist und was sein sollte. 
2. Ursachen der Klassenbildung. Als 
solche werden in der Regel aufgezählt: Rasse, Be- 
rufs- und Arbeilsteilung, Vermögens= und Ein- 
kommensverteilung (Overbergh, Schmoller usw.). 
Die Zurückführung aller Klassengegensätze auf die 
Rasse (Gobineauy) ist verfehlt; das steht wenigstens 
für die Gegenwart unumstößlich fest. Welcher von
	        
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