Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Klassengegensatz zwischen Unternehmern und Lohn- 
arbeitern faltisch besteht, ist nicht zu leugnen; dieser 
Kampf findet seinen grellsten Ausdruck im Streik 
und in der Aussperrung. Allein ist dieser Klassen- 
kampf unbedingt notwendig? Für denchhristlichen 
Sozialpolitiker und Soziologen, der sich an den 
Ideen der Kirchenväter, der angesehensten, aner- 
kannten Theologen, an der Lehre Leos XIII. 
(Enzyklika Rerum novarum) orientiert, kann die 
Antwort nicht zweifelhaft sein. Man mag gegen 
die Vergleichung der im Staat verbundenen Ge- 
sellschaft mit einem Organismus einwenden, was 
man will, soviel ist unbestreitbar, daß die Ver- 
gleichung wenigstens ihrem Kern nach als durch- 
aus zutreffend sich jederzeit erwiesen hat: wie die 
Glieder des Leibes verschiedene Funktionen haben, 
so auch die verschiedenen Klassen innerhalb der 
Gesellschaft. Sie sind die sozialen Organe des 
Staats und sollten sich wieder mehr als solche 
fühlen; nur ein friedliches Zusammenwirken, ein 
Wettbewerb in Erfüllung der entsprechenden Pflich- 
ten statt in Betonung wirklicher oder vermeint- 
licher Rechte, das Bewußtsein der umfassenden 
staatlich-nationalen Solidarität, die Auffassung 
der Berufsarbeit als eines von Gott anvertrauten 
Amts im Dienst der Gesamtheit kann einen be- 
friedigenden Zustand des staatlichen Gesamt- 
körpers herbeiführen. Die sozialen Klassen, die je 
eine einem notwendigen Bedürfnis der Gesellschaft 
korrespondierende Funktion haben, sind darauf an- 
gewiesen, sich zu verständigen. Freilich müssen sich 
seindselige Gefühle einstellen, sobald ein Teil seine 
Pflichten vernachlässigt und verletzt. Insbesondere 
muß der leitende Teil stets mit allem Ernst und 
aller Energie und Opferwilligkeit dahin streben, 
dem sozialen Bedürfnis der Gegenwart sich anzu- 
passen. Unsere Gesellschaft sollte immer weniger 
das Schauspiel einer „erzwungenen“ Arbeils- 
teilung bieten. Es ist hier nicht die Stelle, im 
einzelnen auf die Heilmittel für die bestehenden 
Schäden einzugehen. Das Ziel ist klar; die heutige 
materialistische und individualistische Auffassung 
der sozialen Schichtung muß überwunden werden, 
der „berufliche“ Gedanke muß wieder zum Sieg, 
und stalt des Geldes muß wieder der Mensch zu 
der ihm gebührenden Geltung gelangen (Pesch). 
Auch Weg und Mittel können für den christlichen 
Sozialpolitiker nicht zweifelhaft sein. Er wird mit 
Leo XllI. die Forderung erheben: mehr Gerechtig- 
keit und mehr christliche Liebe, und wird somit die 
Wiederherstellung der Herrschaft der christlichen 
Moral verlangen. Der Arbeit, jeder Art von ge- 
sellschaftlich notwendiger Arbeit soll die ihr ge- 
bührende, vom Christentum stets zuerkannte Wert- 
schätzung zu teil werden. Der christliche Sozial- 
politiker wird sich aber gleich Leo XIII. nicht damit 
begnügen, diese Forderungen, die eine Resorm der 
einzelnen und ihrer Denk- und Handlungsweise 
bezwecken, zu vertreten, sondern ebenso entschieden 
wird er sich auf den Standpunkt stellen, daß der 
Staat unter strenger Wahrung der verteilenden Ge- 
Stände. 
  
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rechtigkeit für die öffentliche Wohlfahrt aller seiner 
Bürger zu sorgen hat, soweit diese selbst dazu nicht 
imstande sind und soweit ein öffentliches Interesse 
in Frage kommt. Gegen Ende des römischen Reichs 
standen sich zwei Klassen der Gesellschaft gegen- 
über wie zwei feindliche Staaten: auf der einen 
Seite einige wenige reiche Großgrundbesitzer, auf 
der andern Seite eine Masse von Armen; der 
„Mittelstand“ war aufgerieben (Pöhlmann). Die 
Folge war der jämmerliche Zusammenbruch des 
Riesenreichs. Je mehr wir uns im modernen Staat 
solchen Zuständen annähern würden, je weniger 
der Staat in Zukunft die Kraft finden sollte, 
solchen Verhältnissen wirksam entgegenzutreten, um 
so gefahrdrohender müßte sich die Zukunft gestalten, 
gefahrdrohend für den Bestand des Staats selbst. 
Da boten doch die alten Stände während ihrer 
Blütezeit ganz andere Garantien für die Fort- 
existenz des Staats als unsere modernen „Klassen“. 
Ob es nicht möglich ist, das Gute aus der Ver- 
gangenheit zu entnehmen und es auf die modernen 
Klassen einigermaßen zu übertragen und sie so zu 
reformieren? Vielleicht gelingt dies, wenn alle 
Berufenen ehrlich und ernstlich zusammenwirken. 
Es wäre in der Tat eine wahrhaft große Aufgabe 
für alle national und edel Gesinnten, die heutige, 
vorwiegend materialistische Auffassung überwinden 
zu helfen, die modernen „Klassen“ mehr und mehr 
den alten „Ständen“ mit ihren Vorstellungen von 
Standesehre und Standesgefühl anzunähern und 
die darin für das Staatsgefüge enthaltenen Ga- 
rantien wiederherzustellen. 
Literatur zul—IV: Waitz, Deutsche Verfassungs- 
geschichte (8 Bde, 1874 78); Hüllmann, Geschichte 
des Ursprungs der S. in Deutschland (21830); Roth, 
Feudalität u. Untertanenverband (1863); Kötschke, 
Die Gliederung der Gesellschaft bei den alten Deut- 
schen, in Deutsche Zeitschrift der Geschichtswissen- 
schaft, N. F. II (1898) 269 ff; Boos, Die Liten u. 
Aldionen (1874); Wilda, Das Gildenwesen im 
Mittelalter (1831); Gierke, Genossenschaftsrecht # 
(1895); Maurer, Wesen des ältesten Adels (1846); 
Heck, Die altfriesische Gerichtsverfassung (1894); 
ders., Die Gemeinfreien der karolingischen Volks- 
rechte (1900); derf., S.probleme, in der Viertel- 
jahrsschr. für Sozial= u. Wirtschaftsgesch. 11 (1904); 
Wittich, Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland 
(1896), ders., Die Frage der Freibauern, in Zeitschr. 
der Savigny--Stiftung für Rechtsgesch., germ. Abt. 
XXIT1001); Brunner, Nobiles u. Gemeinfreie der 
karolingischen Volksrechte, ebd. XIX (1898); ders., 
Ständerechtliche Probleme, ebd. XXIII (1902); 
Vinogradoff, Wergeld u. Stand, ebd. XXIII (1902); 
Schröder, Der altsächsische Volksadel, ebd. XXIV. 
(1903); Ficker, Vom Heerschild (1462); ders., Vom 
Reichsfürstenstand 1 (1861); Löher, Nitterschaft u. 
Adel im späteren Mittelalter (Münchener Sitzungs- 
bericht 1861); Roth von Schreckenstein, Ritter- 
würde u. Nitterstand (1886); v. Below, Territo-= 
rium u. Staat (1000); Breysig, Wirtschaftl. soziale 
Gliederung der S. zu Beginn der neueren Zeit, in 
Schmollers Jahrbuch XXI, 1 (1897); Brunner, 
Deutsche Rechtsgeschichte 1 (21906); ders., Quellen 
u. Geschichte des deutschen Rechts, in Holtzendorff- 
 
	        
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