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Klassengegensatz zwischen Unternehmern und Lohn-
arbeitern faltisch besteht, ist nicht zu leugnen; dieser
Kampf findet seinen grellsten Ausdruck im Streik
und in der Aussperrung. Allein ist dieser Klassen-
kampf unbedingt notwendig? Für denchhristlichen
Sozialpolitiker und Soziologen, der sich an den
Ideen der Kirchenväter, der angesehensten, aner-
kannten Theologen, an der Lehre Leos XIII.
(Enzyklika Rerum novarum) orientiert, kann die
Antwort nicht zweifelhaft sein. Man mag gegen
die Vergleichung der im Staat verbundenen Ge-
sellschaft mit einem Organismus einwenden, was
man will, soviel ist unbestreitbar, daß die Ver-
gleichung wenigstens ihrem Kern nach als durch-
aus zutreffend sich jederzeit erwiesen hat: wie die
Glieder des Leibes verschiedene Funktionen haben,
so auch die verschiedenen Klassen innerhalb der
Gesellschaft. Sie sind die sozialen Organe des
Staats und sollten sich wieder mehr als solche
fühlen; nur ein friedliches Zusammenwirken, ein
Wettbewerb in Erfüllung der entsprechenden Pflich-
ten statt in Betonung wirklicher oder vermeint-
licher Rechte, das Bewußtsein der umfassenden
staatlich-nationalen Solidarität, die Auffassung
der Berufsarbeit als eines von Gott anvertrauten
Amts im Dienst der Gesamtheit kann einen be-
friedigenden Zustand des staatlichen Gesamt-
körpers herbeiführen. Die sozialen Klassen, die je
eine einem notwendigen Bedürfnis der Gesellschaft
korrespondierende Funktion haben, sind darauf an-
gewiesen, sich zu verständigen. Freilich müssen sich
seindselige Gefühle einstellen, sobald ein Teil seine
Pflichten vernachlässigt und verletzt. Insbesondere
muß der leitende Teil stets mit allem Ernst und
aller Energie und Opferwilligkeit dahin streben,
dem sozialen Bedürfnis der Gegenwart sich anzu-
passen. Unsere Gesellschaft sollte immer weniger
das Schauspiel einer „erzwungenen“ Arbeils-
teilung bieten. Es ist hier nicht die Stelle, im
einzelnen auf die Heilmittel für die bestehenden
Schäden einzugehen. Das Ziel ist klar; die heutige
materialistische und individualistische Auffassung
der sozialen Schichtung muß überwunden werden,
der „berufliche“ Gedanke muß wieder zum Sieg,
und stalt des Geldes muß wieder der Mensch zu
der ihm gebührenden Geltung gelangen (Pesch).
Auch Weg und Mittel können für den christlichen
Sozialpolitiker nicht zweifelhaft sein. Er wird mit
Leo XllI. die Forderung erheben: mehr Gerechtig-
keit und mehr christliche Liebe, und wird somit die
Wiederherstellung der Herrschaft der christlichen
Moral verlangen. Der Arbeit, jeder Art von ge-
sellschaftlich notwendiger Arbeit soll die ihr ge-
bührende, vom Christentum stets zuerkannte Wert-
schätzung zu teil werden. Der christliche Sozial-
politiker wird sich aber gleich Leo XIII. nicht damit
begnügen, diese Forderungen, die eine Resorm der
einzelnen und ihrer Denk- und Handlungsweise
bezwecken, zu vertreten, sondern ebenso entschieden
wird er sich auf den Standpunkt stellen, daß der
Staat unter strenger Wahrung der verteilenden Ge-
Stände.
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rechtigkeit für die öffentliche Wohlfahrt aller seiner
Bürger zu sorgen hat, soweit diese selbst dazu nicht
imstande sind und soweit ein öffentliches Interesse
in Frage kommt. Gegen Ende des römischen Reichs
standen sich zwei Klassen der Gesellschaft gegen-
über wie zwei feindliche Staaten: auf der einen
Seite einige wenige reiche Großgrundbesitzer, auf
der andern Seite eine Masse von Armen; der
„Mittelstand“ war aufgerieben (Pöhlmann). Die
Folge war der jämmerliche Zusammenbruch des
Riesenreichs. Je mehr wir uns im modernen Staat
solchen Zuständen annähern würden, je weniger
der Staat in Zukunft die Kraft finden sollte,
solchen Verhältnissen wirksam entgegenzutreten, um
so gefahrdrohender müßte sich die Zukunft gestalten,
gefahrdrohend für den Bestand des Staats selbst.
Da boten doch die alten Stände während ihrer
Blütezeit ganz andere Garantien für die Fort-
existenz des Staats als unsere modernen „Klassen“.
Ob es nicht möglich ist, das Gute aus der Ver-
gangenheit zu entnehmen und es auf die modernen
Klassen einigermaßen zu übertragen und sie so zu
reformieren? Vielleicht gelingt dies, wenn alle
Berufenen ehrlich und ernstlich zusammenwirken.
Es wäre in der Tat eine wahrhaft große Aufgabe
für alle national und edel Gesinnten, die heutige,
vorwiegend materialistische Auffassung überwinden
zu helfen, die modernen „Klassen“ mehr und mehr
den alten „Ständen“ mit ihren Vorstellungen von
Standesehre und Standesgefühl anzunähern und
die darin für das Staatsgefüge enthaltenen Ga-
rantien wiederherzustellen.
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geschichte (8 Bde, 1874 78); Hüllmann, Geschichte
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