Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Anschreibungen und Erhebungen behufs Verwertung 
ihrer Ergebnisse für Verwaltungszwecke hervor. 
Dies hatte dann zur weiteren Folge, daß man 
allgemein die Statistik als ein unentbehrliches 
Hilfsmittel zur Erforschung des Staats= und Ge- 
sellschaftslebens schätzen lernte, zumal durch die im 
18. Jahrh. begründete wissenschaftliche Statistik, 
welche zur Erweiterung der Erhebungsgebiete den 
Anstoß gab und die Grundsätze für die Verarbei- 
tung und Beurteilung des gewonnenen Materials 
ausstellte, das Verständnis für statistische Er- 
hebungen auch den unteren Verwaltungsorganen 
sowie dem Volk selbst näher gebracht wurde. Den 
wichtigsten Gegenstand der statistischen Erhebungen 
bildete im 17. und 18. Jahrh. und noch lange 
Zeit später die Feststellung der Bevölkerungs- 
größe. Die erste Volkszählung im modernen 
Sinn fand 1790 in den Vereinigten Staaten 
von Amerika statt. In den merkantilistisch an- 
gehauchten Staaten wurde schon frühzeitig der 
Bewegung des auswärtigen Handels und der ge- 
werblichen Entwicklung Beachtung geschenkt. Weit 
zurück reichen auch die für die Zwecke der staat- 
lichen Finanzverwaltung veranlaßten Erhebungen 
über die Steuererträge. Die Pflege der landwirt- 
schaftlichen Interessen führte zur Ermittlung des 
Biehstands, der Erntemengen, der Getreidepreise 
usw. Alle diese Erhebungen, welche naturgemäß 
anfangs lückenhaft und wenig verläßlich waren, 
wurden im Lauf der Zeit an der Hand einer ver- 
besserten Theorie und reicherer praktischer Erfah- 
rung immer genauer, gleichmäßiger und nament- 
lich auch umfangreicher. Infolge der gesteigerten 
Verwaltungstätigkeit und der erheblichen Vermeh- 
rung der Gesetze auf allen Gebieten des gesell- 
schaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens 
hat dann die amtliche Statistik seit dem Anfang 
des 19. Jahrh. eine stetige Ausdehnung und ziel- 
bewußte Ausgestaltung erfahren. In den größeren 
Ländern wurden besondere statistische Bureaus ge- 
gründet, deren Leiter ernstlich bestrebt waren, mit 
ihren zum Teil sehr bedeutsamen Arbeiten nicht 
nur einem augenblicklichen Bedürfnis der Verwal- 
tung zu entsprechen, sondern noch darüber hinaus 
der Wissenschaft einen Dienst zu leisten. Welche 
Bedeutung die amtliche Statistik in den letzten 
Jahrzehnten im Deutschen Reich erlangt hat, 
zeigen die zahlreichen staatlichen und städtischen 
statistischen Amter, die gewaltig angewachsene 
Quellenliteratur sowie die Mannigfaltigkeit der 
neuzeitlichen Erhebungen. 
II. Lheorie der Statistik. Der seit dem 
18. Jahrh. übliche Ausdruck Statistik (vom neu- 
lateinischen statista. Staatsmann) hatte anfangs 
die Bedeutung von Staatskunde, wurde aber im 
Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte ein viel um- 
strittener Begriff, indem man die Statistik bald 
mit Geschichte. bald mit Geographie, bald mit 
Staatsrecht und Politik, bald mit der Mathema- 
tik und den Naturwissenschaften in Verbindung 
brachte. Auch bis heute noch ist die Stellung der 
Statistik. 
  
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Statistik in dem allgemeinen System der Wissen- 
schaften streitig geblieben. Wir schließen uns der 
Anschauung Georg v. Mayrs an, welcher die Sta- 
tistik einerseits als reale Wissen schaft und ander- 
seits als Methode definiert. Dieser Standpunkt 
hat, wenn auch formell anfechtbar, den Vorzug, 
daß er allen neueren statistischen Bestrebungen 
in Wissenschaft und Praxis sowohl nach der ma- 
teriellen als auch nach der methodologischen und 
technischen Seite in vollem Umfang gerecht wird. 
Unter Statistik im materiellen Sinn (Wissenschaft 
der Statistik) verstehen wir heute jede Darstellung 
vor allem gesellschaftlicher, aber auch anderer Vor- 
gänge und Zustände, die darauf beruht, daß in 
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durch 
Zählung charakteristischer Tatsachen sichtend ein- 
zudringen versucht wird (Meitzen, Geschichte, 
Theorie und Technik der Statistik /11903j) 
77). Die Statistik im formellen Sinn (stati- 
stische Methode) erforscht auf dem Weg der 
Massenbeobachtung Zustände und Vorgänge auf 
den verschiedensten Anwendungsgebieten des staat- 
lichen, sozialen, wirtschaftlichen und geistigen 
Lebens. Es besteht also ein Gegensatz der Auf- 
fassungen über die Frage, ob die Statistik als 
methodische oder als Realwissenschaft zu betrachten 
sei. Nicht mit Unrecht beruft man sich zum Be- 
weis dafür, daß die Statistik vorherrschend den 
Charakter einer Methode besitze, auf die Tatsache, 
daß sie auch auf solchen Gebieten (z. B. in den 
Naturwissenschaften, der Meteorologie, der Me- 
dizin, der Sprachforschung) in steigendem Maß 
zur Anwendung gelangt, welche mit der Staats- 
kunde überhaupt keine oder nur höchst oberfläch- 
liche Berührungspunkte gemein haben. 
Für die soziale und volkswirtschaftliche 
Forschung, für welche die Statistik weit mehr als 
für jede andere Wissenschaftheute Bedeutung erlangt 
hat, kommen gegenwärtig folgende Abteilungen 
hauptsächlich in Betracht: die Statistik der Bevöl- 
kerung (einschließlich des Auswanderungswesens), 
die Moralstatistik, dieser nahestehend die Kriminal- 
statistik, ferner die Bildungs-(Schul-statistik, die 
Staats- und Gemeinde= (insbesondere Finanz-) 
statistik, sowie das große Gebiet der Sozial= und 
Wirtschaftsstatistik. Zu diesen beiden letzteren Kate- 
gorien gehören die Berufs- und Gewerbestatistik, 
Arbeils-, gewerbliche Produktions-, Agrar--, 
Preis-, Verkehrs- und Handelsstatistik, die Sta- 
tistik des Geld- und Bankwesens, die Statistik der 
Verteilung (Einkommen, Vermögen), Konsum- 
tions--, Armen-, Konkurs-, Versicherungsstatistik 
u. a. m. Diese Einzelstatistiken bilden nach 
v. Mayr den praktischen Teil der wissenschaft- 
lichen Statistik, während der theoretische Teil Ge- 
schichte, wissenschaftliche Stellung und Aufgaben, 
Methode und Technik der Statistik sowie ihr 
Verhältnis zur Verwaltung (auch Organisation 
der slatistischen Amter) behandelt. 
Wie schon oben kurz hervorgehoben wurde, hat 
das erfolgreiche Vordringen der modernen Staats-
	        
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