199
Anschreibungen und Erhebungen behufs Verwertung
ihrer Ergebnisse für Verwaltungszwecke hervor.
Dies hatte dann zur weiteren Folge, daß man
allgemein die Statistik als ein unentbehrliches
Hilfsmittel zur Erforschung des Staats= und Ge-
sellschaftslebens schätzen lernte, zumal durch die im
18. Jahrh. begründete wissenschaftliche Statistik,
welche zur Erweiterung der Erhebungsgebiete den
Anstoß gab und die Grundsätze für die Verarbei-
tung und Beurteilung des gewonnenen Materials
ausstellte, das Verständnis für statistische Er-
hebungen auch den unteren Verwaltungsorganen
sowie dem Volk selbst näher gebracht wurde. Den
wichtigsten Gegenstand der statistischen Erhebungen
bildete im 17. und 18. Jahrh. und noch lange
Zeit später die Feststellung der Bevölkerungs-
größe. Die erste Volkszählung im modernen
Sinn fand 1790 in den Vereinigten Staaten
von Amerika statt. In den merkantilistisch an-
gehauchten Staaten wurde schon frühzeitig der
Bewegung des auswärtigen Handels und der ge-
werblichen Entwicklung Beachtung geschenkt. Weit
zurück reichen auch die für die Zwecke der staat-
lichen Finanzverwaltung veranlaßten Erhebungen
über die Steuererträge. Die Pflege der landwirt-
schaftlichen Interessen führte zur Ermittlung des
Biehstands, der Erntemengen, der Getreidepreise
usw. Alle diese Erhebungen, welche naturgemäß
anfangs lückenhaft und wenig verläßlich waren,
wurden im Lauf der Zeit an der Hand einer ver-
besserten Theorie und reicherer praktischer Erfah-
rung immer genauer, gleichmäßiger und nament-
lich auch umfangreicher. Infolge der gesteigerten
Verwaltungstätigkeit und der erheblichen Vermeh-
rung der Gesetze auf allen Gebieten des gesell-
schaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens
hat dann die amtliche Statistik seit dem Anfang
des 19. Jahrh. eine stetige Ausdehnung und ziel-
bewußte Ausgestaltung erfahren. In den größeren
Ländern wurden besondere statistische Bureaus ge-
gründet, deren Leiter ernstlich bestrebt waren, mit
ihren zum Teil sehr bedeutsamen Arbeiten nicht
nur einem augenblicklichen Bedürfnis der Verwal-
tung zu entsprechen, sondern noch darüber hinaus
der Wissenschaft einen Dienst zu leisten. Welche
Bedeutung die amtliche Statistik in den letzten
Jahrzehnten im Deutschen Reich erlangt hat,
zeigen die zahlreichen staatlichen und städtischen
statistischen Amter, die gewaltig angewachsene
Quellenliteratur sowie die Mannigfaltigkeit der
neuzeitlichen Erhebungen.
II. Lheorie der Statistik. Der seit dem
18. Jahrh. übliche Ausdruck Statistik (vom neu-
lateinischen statista. Staatsmann) hatte anfangs
die Bedeutung von Staatskunde, wurde aber im
Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte ein viel um-
strittener Begriff, indem man die Statistik bald
mit Geschichte. bald mit Geographie, bald mit
Staatsrecht und Politik, bald mit der Mathema-
tik und den Naturwissenschaften in Verbindung
brachte. Auch bis heute noch ist die Stellung der
Statistik.
200
Statistik in dem allgemeinen System der Wissen-
schaften streitig geblieben. Wir schließen uns der
Anschauung Georg v. Mayrs an, welcher die Sta-
tistik einerseits als reale Wissen schaft und ander-
seits als Methode definiert. Dieser Standpunkt
hat, wenn auch formell anfechtbar, den Vorzug,
daß er allen neueren statistischen Bestrebungen
in Wissenschaft und Praxis sowohl nach der ma-
teriellen als auch nach der methodologischen und
technischen Seite in vollem Umfang gerecht wird.
Unter Statistik im materiellen Sinn (Wissenschaft
der Statistik) verstehen wir heute jede Darstellung
vor allem gesellschaftlicher, aber auch anderer Vor-
gänge und Zustände, die darauf beruht, daß in
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durch
Zählung charakteristischer Tatsachen sichtend ein-
zudringen versucht wird (Meitzen, Geschichte,
Theorie und Technik der Statistik /11903j)
77). Die Statistik im formellen Sinn (stati-
stische Methode) erforscht auf dem Weg der
Massenbeobachtung Zustände und Vorgänge auf
den verschiedensten Anwendungsgebieten des staat-
lichen, sozialen, wirtschaftlichen und geistigen
Lebens. Es besteht also ein Gegensatz der Auf-
fassungen über die Frage, ob die Statistik als
methodische oder als Realwissenschaft zu betrachten
sei. Nicht mit Unrecht beruft man sich zum Be-
weis dafür, daß die Statistik vorherrschend den
Charakter einer Methode besitze, auf die Tatsache,
daß sie auch auf solchen Gebieten (z. B. in den
Naturwissenschaften, der Meteorologie, der Me-
dizin, der Sprachforschung) in steigendem Maß
zur Anwendung gelangt, welche mit der Staats-
kunde überhaupt keine oder nur höchst oberfläch-
liche Berührungspunkte gemein haben.
Für die soziale und volkswirtschaftliche
Forschung, für welche die Statistik weit mehr als
für jede andere Wissenschaftheute Bedeutung erlangt
hat, kommen gegenwärtig folgende Abteilungen
hauptsächlich in Betracht: die Statistik der Bevöl-
kerung (einschließlich des Auswanderungswesens),
die Moralstatistik, dieser nahestehend die Kriminal-
statistik, ferner die Bildungs-(Schul-statistik, die
Staats- und Gemeinde= (insbesondere Finanz-)
statistik, sowie das große Gebiet der Sozial= und
Wirtschaftsstatistik. Zu diesen beiden letzteren Kate-
gorien gehören die Berufs- und Gewerbestatistik,
Arbeils-, gewerbliche Produktions-, Agrar--,
Preis-, Verkehrs- und Handelsstatistik, die Sta-
tistik des Geld- und Bankwesens, die Statistik der
Verteilung (Einkommen, Vermögen), Konsum-
tions--, Armen-, Konkurs-, Versicherungsstatistik
u. a. m. Diese Einzelstatistiken bilden nach
v. Mayr den praktischen Teil der wissenschaft-
lichen Statistik, während der theoretische Teil Ge-
schichte, wissenschaftliche Stellung und Aufgaben,
Methode und Technik der Statistik sowie ihr
Verhältnis zur Verwaltung (auch Organisation
der slatistischen Amter) behandelt.
Wie schon oben kurz hervorgehoben wurde, hat
das erfolgreiche Vordringen der modernen Staats-