Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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jener, welche sich eines Verbrechens bereits schuldig 
gemacht haben. Unter Besserung ist hier nicht die 
moralische Besserung gemeint, sondern nur die ju- 
ridische, d. h. die Beförderung der Rechtlichkeit 
oder der rechtlichen Gesinnung des Menschen für 
die Außenwelt. Sie faßt den Verbrecher allein ins 
Auge, sieht die Strafe je nach ihrer Gestaltung 
und Ausmessung als das geeignete Mittel für 
diesen Zweck und die Strafandrohung im Gesetz 
als Vorbereitung der tatsächlichen Bestrafung an. 
Eine andere, als deterministisch bezeichnete, Rich- 
tung der Besserungstheorie will weder die morali- 
sche noch die juridische Besserung, sondern die 
Verstandesbesserung bezwecken. Im Hinblick auf 
die noch zu erwähnenden neuzeitlichen Theorien 
sei hier bemerkt, daß unter den Besserungstheo- 
rien bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. 
auch die phrenologische genannt wird, die da- 
von ausgeht, daß „die letzten Gründe aller Ver- 
brechen . entweder in ursprünglich unglücklicher 
Anlage oder in krankhafter Aufregung der Or- 
gane bestehen, wozu noch der dritte Fall der Un- 
wissenheit oder mangelnder Bildung kommt. In 
allen diesen Fällen ist der Verbrecher mehr unter 
dem Gesichtspunkt eines moralisch Kranken zu be- 
trachten, welcher unser Bedauern und unsern 
Wunsch, ihn zu bessern, erregen soll“. Zu den 
relativen Theorien zählt man auch, im Gegensatz 
zu den Nützlichkeitstheorien, die sog. Rechtstheorien, 
d. h. solche Theorien, welche unmittelbar dem staat- 
lichen Zweck der Aufrechterhaltung der Rechtsord- 
nung, ohne sonstige Mittel- oder Nebenzwecke, 
dienen wollen. Das sind dann die Theorien, wo- 
nach die Strafe vom Staat aus Notwehr oder zur 
Selbsterhaltung oder als Vergütung an Stelle der 
durch Verübung des Verbrechens eintretenden 
Rechtlosigkeit des Verbrechers verhängt wird. Und 
endlich sind zu den relativen Theorien auch die 
Strafvertragstheorien zu zählen, insbesondere die 
von Fichte, der neben dem allgemeinen Staats- 
vertrag, durch den der Staat entsteht, einen be- 
sondern Abbüßungsvertrag annimmt, durch den 
die Untertanen sich noch speziell der Strafgewalt 
des Staats unterwerfen, dergestalt, daß der Staat 
zur Strafe für ein Verbrechen befugt sein soll, Ehre, 
Leben, Freiheit, Vermögen der Untertanen zu ent- 
ziehen, zu deren Erhaltung er doch gerade durch den 
allgemeinen Staatsvertrag verpflichtet erscheint. 
J%) Im letzten Drittel des 19. Jahrh. nun traten 
Ideen auf, die in ihrem letzten Grund zwar be- 
reits in einigen der älteren Theorien verborgen 
liegen, aber doch Gesichtspunkte in den Vorder- 
grund schieben, die dem nie unterbrochenen Streit 
der älteren Theorien eine neue Richtung geben. 
Die heutigen Vertreter auch dieser älteren Theo- 
rien sind sich darüber einig, daß die Strafgewalt 
des Staats ihren Rechtsgrund in der Notwendig- 
keit, die Rechtsordnung gegen Störungen und 
Verletzungen zu schützen, besitzt und daß die Strafe 
das ihr hierzu zur Verfügung stehende Mittel ist. 
Ist das Verbrechen eine Störung der Rechtsord- 
Strafe usw. 
  
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nung, so ist sonach die Strafe das staatliche 
Mittel zur Bekämpfung dieser Störung. Es wird 
nicht abzustreiten sein, daß den relativen Theo- 
rien wenigstens, und zwar soweit sie mittels Ab- 
schreckung oder Prävention über den Verbrecher 
hinaus auch auf andere wirken wollen, dieser Ge- 
danke nicht fremd ist. Aber dieser Gedanke ist nur 
einseitig unter dem Gesichtspunkt der Strafe er- 
örtert worden, wie es denn rechtsgeschichtliche Tat- 
sache ist, daß, wenn nicht gerade die Entstehung, 
so doch intensivere Erörterung, Begründung und 
Ausbau dieser Theorien auf das Bedürfnis zurück- 
zuführen ist, das Gewohnheitsrecht zu rechtfertigen, 
das darauf ausging, in Abweichung von den nach 
Art und Maß überaus harten Strafbestimmungen 
des bestehenden gemeinen Rechts, in der Praxis 
angemessene gemäßigte Strafausmessung eintreten 
zu lassen. Das Verbrechen als solches wurde dabei 
nicht berücksichtigt; es wurde als eine einmal be- 
stehende, nicht zu ändernde allgemeine Erscheinung 
hingenommen. Hier knüpfen nun die neuen Theo- 
rien an. Sie gehen davon aus, daß, wenn man 
das Verbrechen als solches bekämpfen wolle, man 
vor allem seine Ursachen aufdecken und diese be- 
seitigen müsse. Von besonderer Bedeutung für die 
Durchführung dieses Gedankens als Aufgabe der 
Kriminalogie war es, daß die Psychiatrie große 
wissenschaftliche Fortschritte gemacht und auch ge- 
rade die Kriminalität in den Kreis ihrer Beobach- 
tungen und Untersuchungen gezogen hatte. Fußend 
auf der Tatsache, daß bei manchem Verbrecher 
Symptome geistiger Erkrankung nachgewiesen 
waren, glaubte man aus anormalen physischen und 
physiologischen Eigenschaften solche Symptome 
herleiten zu können, wie das schon in beschränkterem 
Maß die oben bereits erwähnte phrenologische 
Theorie angenommen hatte. So zog insbesondere 
der Italiener Lombroso, der für die eine der 
neueren Theorien, und zwar die sog. kriminal- 
anthropologische oder auch kriminal-biologische, 
bahnbrechend gewesen ist, in den 1870er Jahren 
aus gewissen körperlichen Befunden bei einer An- 
zahl von Verbrechen allgemeine Schlußfolgerungen 
auf den Verbrecher als Typus. Er faßte auf 
Grund seiner Feststellungen den verbrecherischen 
Menschen, den geborenen Verbrecher, als eine 
selbständige Art innerhalb der menschlichen Gesell- 
schaft auf. Ihm ist der verbrecherische Mensch 
„eine atavistische Erscheinung, ein Rückfall in die 
Eigenart des Urmenschen oder des Kindes, oder 
ein Erzeugnis epileptoider Entartung, oder eine 
Form des moralischen Irreseins“. Für ihn be- 
steht also die Bekämpfung des Verbrechens in der 
Unschädlichmachung dieses Typus. Lombroso be- 
sitzt, obgleich er, „unbeirrt durch die kleinliche 
Forderung exakter Beobachtung und vorsichtiger 
Deutung der gefundenen Ergebnisse“, seine Theo- 
rie mehr als mangelhaft begründet und sich selbst 
verschiedentlich stark korrigiert hat, noch Anhänger, 
namentlich in seinem Vaterland. Etwas jünger 
als diese Theorie ist die sog. kriminal-soziologische,
	        
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