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e) Wie jede Politik, so ist auch die Kriminal-
politik am letzten Ende darauf gerichtet, im Recht
verwirklicht zu werden. So darf man auch vor-
aussetzen, daß es den Begründern und Verfechtern
der verschiedenen Theorien nicht, wie einer von
ihnen einzelnen seiner Gegner vorwarf, „nur um
Systemsucht zu tun ist, ohne nach dem Guten oder
Schlimmen, welches sie wirken, auch nur zu fragen"“,
als ob diese Frage den Rechtsphilosophen gar
nichts anginge, sondern um einen von guter Ab-
sicht getragenen heilsamen Einfluß auf die Gesetz-
gebung. Auf ein ehemals vorhandenes praktisches
Bedürfnis in dieser Richtung, und zwar auf das,
gegenüber den äußerst harten Strafbestimmungen
des gemeinen Rechts ein angemessenes Strafmaß
zu ermöglichen, ist oben bereits hingewiesen. Es
ist aber auch unschwer nachzuweisen, daß seit mehr
als einem Jahrhundert die Strafgesetzgebungen
mehr oder weniger unter dem Einfluß der einen
oder andern Theorie oder mehrerer derselben
gestanden haben. So wiegen z. B. im Strafrecht
des preußischen Landrechts Abschreckung und
Sicherung vor. Eine konsequente Durchführung
der Feuerbachschen Theorie des psychologischen
Zwangs zeigt unbestrittenermaßen das bayrische
Strafgesetzbuch von 1813. Die Abschreckungs-
theorie ist starr durchgeführt im französischen code
Pénal von 1810 und, wenn auch recht gemildert,
in dem auf ihm fußenden preußischen St.G.B.
von 1851, in welch letzterem dann schon Besse-
rung als Strafzweck mitberücksichtigt erscheint.
Noch mehr tritt der Besserungszweck im deutschen
St.G. B. von 1871 hervor, z. B. in dem Institut
der vorläufigen Entlassung. Hier zeigt sich aber
auch wieder mehr eine Berücksichtigung der privaten
Genugtuung durch die dem Verletzten beigelegte
Befugnis, unter bestimmten Voraussetzungen die
Strafverfolgung durch die Anklagebehörde ver-
langen, in andern Fällen ohne weiteres die Straf-
verfolgung selbständig durch Erhebung der Privat-
klage in die Hand nehmen zu können.
Ein ganz besonderes Bestreben nach legislativem
Einfluß von sehr großer Tragweite zeigt sich vor
allem bei den Vertretern der neuen kriminal-
soziologischen Schule. Ihre Forderungen
lassen sich nach Liszt wie folgt kurz zusammenfassen.
Eswird davon ausgegangen, daß die „Bekämpfung
des Verbrechens durch individualisierende Einwir-
kung auf den Verbrecher“ zu erfolgen habe, dem-
gemäß, „daß die Strafe als Zweckstrafe sich in Art
und Maß nach der Eigenart des Verbrechers richte,
den sie durch Zufügung eines Ubels von der künf-
tigen Begehung weiterer Verbrechen abhalten
will“. Diesen Zweck erfüllt zunächst nicht die unsere
heutige Strafrechtspflege beherrschende kurze Frei-
heitsstrafe, „welche in ihrer heutigen Anwendungs-
weise weder bessert noch abschreckt noch unschädlich
macht, dafür aber vielfach den Neuling dauernd
in die Bahn des Verbrechens weist“. Sie ist durch
andere Maßregeln (Zwangsarbeit u. a.) zu er-
Strafe usw.
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Schwierigkeiten stößt. Dagegen ist einer erwei-
terten Anwendung der Geldstrafe unter An-
passung an die Vermögensverhältnisse des Ver-
urteilten das Wort zu reden. Für besonders ge-
eignete Fälle ist die bedingte Verurteilung ein-
zuführen, die bereits in einer Reihe von Staaten
zur Anwendung gelangt und dem angestrebten
Zweck mehr entspricht als die in einzelnen deut-
schen Staaten im Verordnungsweg eingeführte be-
dingte Begnadigung. Bei jugendlichen Ver-
brechern ist überhaupt die Freiheitsstrafe solang
als möglich durch erziehende Maßregeln zu er-
setzen. Im allgemeinen erscheint für leichtere Ver-
gehen eine Durchbrechung des Legalitätsprinzips
(ogl. d. Art. Strasprozeß) am Platz. Hat man
es mit einem „Zustandsverbrecher“ zu tun, bei
dem ein festgewurzelter Hang zu verbrecherischen
Taten festgestellt ist, so ist er unschädlich zu
machen, eine Aufgabe, die, wie die Irrenanstalt
dem geisteskranken Verbrecher gegenüber, ihm
gegenüber eine besondere Anstalt oder Anstalts-
abteilung zu erfüllen hat. Erwartet man von der
Strafvollstreckung eine Einwirkung auf die Per-
sönlichkeit des Verbrechers, so liegt der Gedanke
nahe, die Strafe nicht von vornherein quantitativ
fest zu bestimmen, vielmehr wenigstens bei der
Freiheitsstrafe deren Dauer eben von dieser Ein-
wirkung abhängig zu machen. Daher geht eine
Forderung dahin, „daß das richterliche Urteil
keine bestimmte Strase auswerfen, sondern diese,
etwa innerhalb eines Höchst= und Mindestmaßes,
auf Grund nachheriger genauer Feststellung des
Charakters des Verbrechers endgültig bemessen
werden solle (sog. unbestimmte Strafurteile)“.
Diese Feststellung soll dann einer Ansicht gemäß
einem späteren strafrichterlichen Urteil, wie dies
bereits in einigen nordamerikanischen Staaten der
Fall ist, oder aber gemäß einer andern Ansicht einer
besondern Behörde, einem Strafvollzugsamt, über-
tragen werden. Keine dieser Forderungen, die
beiden letzten, die lebhaft umstritten sind, aus-
genommen, ist indessen der kriminal-soziologischen
Schule eigentümlich. Sie werden vielmehr alle
heute von jeder Theorie, die nur einigermaßen
den Besserungszweck der Strafe gelten läßt, eben-
falls erhoben; denn auch die klassische Schule er-
kennt vollauf die Reformbedürftigkeit der Bekämp-
fung des Verbrechens als endemischer Erscheinung
an. Und mit der kriminal-soziologischen ist diese
Schule auch einer Meinung dahin, daß eine ziel-
bewußte Sozialpolitik, welche die Besserung un-
serer sozialen Verhältnisse herbeiführt, einen
dankenswerten, aber auch notwendigen Faktor in
diesem Kampf bildet, eine Wahrheit, die übrigens
nachgerade Gemeingut aller ist, auch solcher, die
vollständig außerhalb dieses Schulstreits stehen.
Was die beiden Schulen, die klassische und die
kriminal-soziologische, trennt, das sind vielmehr der
Ausgangspunkt und der Leitsatz der letzteren und
deren unannehmbare Konsequenzen für die prak-
setzen, da ihre Verschärfung auf große praktische tische Gestaltung des Strafrechts. Aus der kurzen