Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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lassen. Erst allmählich werden solche Übeltaten 
auch als eine Störung des gemeinen Friedens 
aller angesehen; dann tritt neben die Selbsthilfe 
und Blutrache und später an die Stelle derselben 
das staatliche Strafrecht. 
#3. Diesen Entwicklungsgang hat im allgemeinen 
auch das römische Strafrecht genommen. Landes- 
verrat und Tötung eines Stammesgenossen (per- 
duellio und parricidium) sind die ersten im alt- 
römischen Strafrecht als gemeine Verbrechen be- 
trachtete Ubeltaten. Daneben werden schon zur 
Königszeit Mißhandlungen der Eltern, Verletzung 
der Heiligtümer, Vergehungen gegen Acker und 
Felder (z. B. Grenzsteinverrückung), Brandstif- 
tung u. a. mit öffentlicher Strafe bedroht. Als 
Strafe steht neben der Todesstrafe und Wieder- 
vergeltung (Talion) die Ausstoßung aus der reli- 
giösen Gemeinschaft, die Verfluchung und Preis- 
gabe des Frevlers an die Privatrache jedes Bürgers 
im Vordergrund. Aus der hieraus sich ergebenden 
Rätlichkeit der Flucht entstand dann die auch dem 
späteren römischen Recht eigentümlich gebliebene 
Befugnis des Verbrechers, durch Selbstverbannung 
sich jeder staatlichen Bestrafung entziehen zu können. 
Allmählich erst wird das Strafrecht auch auf andere 
nach unsern heutigen Anschauungen als strafbar 
anzusehende Handlungen erstreckt. Das geschieht 
aber stets bloß gelegentlich und meist veranlaßt 
durch die Uberhandnahme von Vergehungen der 
betreffenden Art. Die Form dafür ist ein Spezial- 
gesetz, in welchem neben der Feststellung der den 
Tatbestand des Verbrechens ausmachenden Merk- 
male zugleich das Verfahren vor der quagestio 
(vogl. d. Art. Strafprozeß) geregelt wird. In 
weitem Umfang blieben die Angriffe auf die per- 
sönlichen Lebensinteressen (Privatdelikte im Gegen- 
satz zu den öffentlichen Delikten) der Verfolgung 
von seiten des Verletzten im Weg der auf Geld- 
strafe gerichteten Pönalklage vor den Zivilgerich- 
ten überlassen. Dem römischen Strafrecht eigen- 
tümlich ist das Vorherrschen des subjektiven Ele- 
ments in der Behandlungsweise der Verbrechen. 
Der verbrecherische Wille ist das Hauptaugenmerk 
des Rechts; daher die strenge Bestrafung des Ver- 
suchs, dergestalt, daß nach manchen Gesetzen der 
irgendwie tatsächlich hervorgetretene verbrecherische 
Wille schon wie das vollendete Verbrechen bestraft 
wird. Aber äußerlich wie innerlich stellt sich das 
römische Strafrecht infolge der Entstehungsart der 
einzelnen Gesetze als ein zusammenhang= und 
Strafrecht. 
  
spstemloses Recht dar, das hinter dem römischen 
Zivilrecht weit zurücksteht. 1 
4. Ganz abweichend von dem vorerwähnten 
Prinzip zieht das germanische Strafrecht die 
subjektive Seite des Verbrechens gar nicht in Be- 1 
tracht. Es sieht nicht auf die innere Schuld, son- 
dern nur auf den äußern Erfolg. Demgemäß 
straft es den Versuch gar nicht oder nur ganz 
milde, die bloß kulpose Schädigung aber schwer 
je nach dem Erfolg. Das hängt mit dem ihm 
eigentümlichen Kompositionensystem zusammen. 
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Anfänglich erblickte es, wie alle Rechte, nur aus- 
nahmsweise, und zwar fast nur, wenn es sich um 
militärische Verbrechen handelte, das Gemein- 
wesen durch eine Ubeltat mitverletzt; zunächst sah 
es in einer solchen nur einen Angriff auf den ein- 
zelnen, den dieser und seine Sippe durch Privat- 
rache, Fehde, zu ahnden berechtigt und verpflichtet 
ist. Wollte der Verletzte auf die Privatrache ver- 
zichten, so konnte er die ihm zur Privatfühne zu- 
stehende compositio oder Buße von den Volks- 
gerichten fordern. Über die Höhe dieser compo- 
sitio bestanden in den Volksrechten Taxen, die 
oft so genau waren, daß „man die gesetzlichen 
Bußen für Verletzungen nach der Länge, Breite 
und Tiefe der Wunden berechnen kann“. Bei 
einem solchen System mußte die innere Schuld, der 
verbrecherische Wille, vollständig in den Hinter- 
grund treten. Neben der compositio mußte der 
Verbrecher auch an das Gemeinwesen zur öffent- 
lichen Sühne das Friedensgeld, das sog. Frecum 
oder die Wedde zahlen. Der Fortschritt im Straf- 
recht in der Richtung, daß im Verbrechen mehr 
und mehr eine Verletzung des gemeinen Friedens 
aller zu erblicken ist, macht sich darin geltend, daß 
allmählich die Rechtsbücher die Wedde stärker be- 
tonen und die private Buße zurücktreten lassen. 
5. Im völligen Gegensatz hierzu steht wieder 
das kanonische Strafrecht. Während das ger- 
manische Strafrecht nur die äußere Seite des Ver- 
brechens erfaßte, wendete das kanonische Recht sein 
Augenmerk gerade der innern Seite zu. Der in 
ihm verkörperte sittliche Geist des Christentums 
faßte das Verbrechen von dem Gesichtspunkt der 
Sünde gegen Gott auf, und mit Notwendigkeit 
mußte das kanonische Recht demnach hauptsächlich 
auf den verbrecherischen Willen sehen. Es tut das 
auch, und zwar mit einer Konsequenz, die offen- 
sichtlich zu weit geht. So heißt es z. B. in can. 29 
de poenit.: Wenn du nur aus Furcht einen 
Diebstahl unterlässest, so hast du ihn dennoch 
innerlich begangen. Immerhin liegt hierin aber 
gegenüber der rohen germanischen Auffassung die 
Aufstellung eines richtigen Prinzips. Es ergeben 
sich aber auch außerdem noch unmittelbar aus der 
kirchlichen Auffassung gewaltige Fortschritte auf 
strafrechtlichem Gebiet. Zunächst ist im kanonischen 
Strafrecht kein Raum mehr für die dem germa- 
nischen Recht eigne privatrechtliche Behandlung 
des Verbrechens; da ja eine Verfehlung gegen 
Gott vorliegt, so muß sie auch als eine solche ge- 
sühnt werden. Es tritt öffentliche Sühne ein, aber 
Sühne im Geist der Kirche, und die Kirche will 
nicht, daß der Sünder sterbe, sondern daß er lebe, 
bereue und sich bessere; infolgedessen tritt an die 
Stelle der Abzahlung die bessernde Pönitenz. 
Blutige Strafen, Todesstrafe und Verstümme- 
lungen werden von der Kirche verabscheut. Und 
endlich folgt aus der kirchlichen Auffassung des 
Verbrechens als Verfehlung vor Gott, vor dem 
alle Menschen gleich sind, die vom kanonischen 
Recht ebenfalls in starkem Gegensatz zum germa-
	        
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