Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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wiichen Recht durchgeführte Gleichheit vor dem 
ese 
6. Auf der Grundlage des kanonischen und des 
römischen Rechts baut sich das gemeine Straf- 
recht auf. Das kanonische Strafrecht, das zunächst 
nur die rein kirchlichen Verbrechen (delicta eccle- 
siastica) zum Gegenstand hatte und erst allmäh- 
lich auf Ubeltaten ausgedehnt wurde, die in näherer 
oder entfernterer Beziehung zur Religion standen 
(delicta mixta), wurde in Gemeinschaft mit dem 
römischen Recht und in derselben Art und Weise 
wie dieses durch die Praxis der Juristen in Deutsch- 
land rezipiert. Daß infolgedessen namentlich in 
der Zeit des Übergangs, dem späteren Mittel- 
alter, eine große Verwirrung und Unsicherheit ein- 
treten und das Bedürfnis nach einer umfassenden 
Strafgesetzgebung sich steigern mußte, ist erklärlich. 
Den entscheidenden Wendepunkt in dieser Richtung 
bezeichnet die Errichtung des allgemeinen Land- 
friedens und des Reichskammergerichts im Jahr 
1495. Auf die wiederholten Klagen des letzteren 
über die herrschenden Mißstände kam nach meh- 
reren Vorläufern partikulärer Art, so nach Erlaß 
der von Joh. v. Schwarzenberg verfaßten Bam- 
bergischen Halsgerichtsordnung von 1507, auf 
dem Regensburger Reichstag von 1532 die Pein- 
liche Gerichtsordnung Karls V. (P.G.O., Con- 
stitutio Criminalis Carolina, C. C. C.) zustande, 
ein das Strafrecht und den Strafprozeß umfas- 
sendes Werk. Sie ist die Grundlage des gemeinen 
Strafrechts, übrigens nur als subsidiäres Gesetz 
publiziert, so daß zunächst Partikularrecht, in 
zweiler Linie die Carolina und zur Ergänzung 
römisches und kanonisches Recht galt. Die Folge 
war, daß vieles der Praxis und Doktrin über- 
lassen blieb, auf welch letztere (wie bereits in d. 
Art. Strafprozeß bemerkt ist), ein Carpzov u. a. 
von entscheidendem Einfluß waren. Die Carolina 
erkennt das römische und kanonische Recht als re- 
zipiert an und will nur eine Darstellung gelten- 
den Rechts sein, der Verschmelzung jener mit dem 
einheimischen Recht. Das zeigt sich hauptsächlich 
darin, daß sie das oben mehrfach betonte objektive 
und subjektive Element im Verbrechen angemessen 
ausgleicht und in ihrer in diesem Sinn gehaltenen 
Behandlung der Schuld, des Versuchs, der Not- 
wehr u. a. Durch ihre Verweisung auf Wissen- 
schaft und Praxis enthielt die Carolina einerseits 
einen höchst wertvollen Faktor für die ständige 
Fortbildung des Strafrechts, legle aber anderseits 
durch dieses unbestimmte Element den Keim für 
eine wachsende Unsicherheit mannigfacher Art, die 
um so größer werden mußte, als die Wissenschaft 
sich ihrer Aufgabe auf dem Gebiet des Strafrechts 
durchaus nicht gewachsen zeigte. Unter gleichen 
Verhältnissen steht die Partikulargesetzgebung, die 
in der ersten Zeit nach dem Erlaß der Carolina 
sich meist in starker Anlehnung an diese lebhaft 
entfaltete, von der Mitte des 17. Jahrh. bis da- 
hin des 18. aber vollständig ins Stocken geriet. 
Um diese Zeit beginnt eine neue Periode legis- 
Strafrecht. 
  
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latorischer Tätigkeit der Partikularstaaten, der eine 
größere Anzahl von Strasgesetzbüchern angehört, 
so z. B. der Codex Maximilianeus iuris Bava- 
rici criminalis für Bayern von 1751 und die 
Constitutio criminalis Theresiana für Oster- 
reich von 1768, später das Strafgesetz von 
Joseph II. von 1787 und der TI II, Tit. 20 des 
Allgemeinen Preußischen Landrechts u. a. Ersetzt 
werden diese dann wieder durch die Strafgesetz- 
bücher, die in fast allen deutschen Staaten nach 
dem Untergang des alten deutschen Reichs, ab- 
gesehen von dem bereits 1813 erschienenen Bay- 
rischen Strafgesetzbuch, in den Jahren nach 1838 
erlassen wurden und dem gemeinen Strafrecht 
vollends ein Ende machen, außer in Mecklenburg, 
Schaumburg-Lippe und Bremen, woselbst dieses 
bis zum Erlaß des Strafgesetzbuchs für das 
Deutsche Reich von 1871 (vgl. unter III.) in Gel- 
tung blieb. Eine weitere unerfreuliche Zersplitte- 
rung des Strafrechts war die notwendige Folge. 
II. Das geltende Beichsstrafrecht. 1. All- 
gemeines über Entstehung. Charakter und In- 
halt des Reichsstrafgesetzbuchs (Str. G. B.); sach- 
liches, zeitliches, räumliches und persönliches Gel- 
tungsgebiet der Strafrechtssätze des Strafgesetz- 
buchs. Gemäß Art. 4 der Verfassung für den 
Norddeutschen Bund gehörte zu den Gegenständen 
der Bundesgesetzgebung auch das Strafrecht. Auf 
Grund dessen beschlossen bereits im Jahr 1868 
Bundesrat und Reichstag, für das ganze Bundes- 
gebiet ein gemeinsames Strafgesetzbuch zu erlassen. 
Ein solches kam auf der Grundlage des preußi- 
schen Strafgesetzbuchs von 1851 unter dem 
31. Mai 1870 zustande und gilt seit dem 1. Jan. 
1872 für das ganze deutsche Reich, seit dem 
1. April 1891 auch für Helgoland. Bereits am 
26. Febr. 1876 erging eine umfangreiche Novelle 
dazu, die eine Reihe von Neuerungen und Er- 
gänzungen nicht unerheblicher Art brachte, na- 
mentlich in betreff der Antragsdelikte; ihr folgten 
noch mehrere Anderungen. 
In seinem Charakter unterscheidet sich das 
Strafgesetzbuch von seinem Vorbild hauptsächlich 
in der Milderung des ganzen Strafensystems so- 
wohl wie in der Herabsetzung der einzelnen Straf- 
androhungen, in einer neuen angemesseneren Be- 
handlung der Ehrenstrafen und der Polizeiauf- 
sicht, der Einführung eines Strafmündigkeits- 
alters, Erweiterung des Systems der mildernden 
Umstände, Herabsetzung der Versuchsstrase, Ein- 
führung der einstweiligen Entlassung u. a. m. 
Das Strafgesetzbuch zerfällt in Einleitende 
Bestimmungen (§§ 1/12), einen Ersten Teil mit 
5 Abschnitten (Von der Bestrafung der Ver- 
brechen, Vergehen und Übertretungen im all- 
gemeinen, §§ 13/79) und einen Zweiten Teil 
mit 29 Abschnitten (Von den einzelnen Ver- 
brechen, Vergehen und Übertretungen und deren 
Bestrafung, §§ 80/370). 
Das Strafgesetzbuch ist nicht wie die Carolina 
subsidiäres Recht, es setzt vielmehr das gesamte 
 
	        
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