385
1672 und das Reichsgesetz von 1731 erkennen,
die sich beide gegen den geschlossenen Widerstand
der Gesellen richteten. Zu dem genannten Reichs-
gesetz hatte der große Ausstand der Augsburger
Schuhknechte den Anlaß gegeben. In England
und Frankreich waren ebenso die Ausstände der
Handwerksgesellen nichts Unbekanntes; in Eng-
land suchten schon früh Gesetze von Eduard III.
und Heinrich VI. die Streikversuche einzuschränken.
Eine häufige und fast gewöhnliche Erscheinung
wurde indes der Streik erst mit dem Aufkommen
der freien Lohnarbeit gegen Ende des 18. Jahrh.
In den Arbeitern war das Streben erwacht, selb-
ständig die Arbeitsbedingungen mitzubestimmen;
und da sie hierin von den Unternehmern gewalt-
sam zurückgedrängt wurden, suchten sie sich ihr
Recht durch Streiks zu erkämpfen. Die gräßliche
Not, in welche die rasch emporblühende Industrie
die Lohnarbeiter stürzte, hieß diese sich zusammen-
rotten zu plötzlichen Aufständen. In wilden regel-
losen Kämpfen, bei denen Morde, Fabrikbrände,
Zerstörung von Maschinen etwas Gewöhrliches
waren, namentlich in England, suchten sie ihre
Lage zu verbessern; aber diese unüberlegten und
ohne finanzielle Mittel unternommenen Streiks
endeten fast stets mit einer völligen Niederlage.
Die scharfen Koalitionsverbote, die damals er-
lassen wurden, erstickten die Kampflust der Arbeiter
nicht; sie wurde nur noch leidenschaftlicher und
erbitterter. Erst die allmählich erstarkenden Ar-
beiterorganisationen waren imstande, den Streiks
eine andere Form zu geben. Sie waren ent-
standen, nicht lediglich, um die Massen zum Kampf
zu organisieren, sondern mit dem allgemeinen
Zweck, die wirtschaftliche und soziale Lage der
Arbeiter zu heben; dabei nahm unter den Mitteln
der Gewerkschaft der Streik die Stelle der ultima
ratio ein. Aber ebendeshalb mußte der Streik
jetzt andere, mildere Formen annehmen. An Stelle
des wilden Losschlagens trat ein vorsichtiges
Prüfen und Abwögen vor dem Entschluß; die
sich mehrenden Geldmittel der Gewerkschaften ver-
pflichteten diese zur Vorsicht bei den stets viel Geld
verschlingenden Kämpfen; an Stelle des Mordens
und Brennens trat eine wirtschaftliche Kriegs-
taktik, ein fein ausgeklügeltes System von Grund-
sätzen und Hilfen. Freilich haben die Gewerk-
schaften, namentlich soweit sie sozialistischen oder
gar anarchistischen Einflüssen unterstehen, bei
weitem nicht immer einschränkend und mildernd
in Streikbewegungen eingegriffen; sie waren
häufig nicht stark genug, die aufgeregten Massen
zu zügeln, und mußten, um die Führung zu be-
halten, von den Massen sich führen lassen. Aber
daran ist nicht zu zweifeln, daß mit dem innern
und äußern Wachstum der Gewerkschaften die
Streiks seltener und weniger heftig werden, und
daß mehr und mehr an Stelle der verheerenden
Kämpfe feste Friedensverträge in Form von
Tarifen treten. Das Beispiel Englands beweist
es; und auch in Deutschland ist jetzt die Zahl der
Streik usw.
386
Verhandlungen und Friedensschlüsse erheblich
größer als die Zahl der gewerblichen Kämpfe.
Die Aussperrungen in ihrer heutigen Form
sind erst üblich geworden seit dem Entstehen der
Arbeitgeberverbände. Mit dem Erstarken der Ar-
beiterorganisationen fühlte man auf der Unter-
nehmerseite immer mehr das Bedürfnis, neben die
allgemeinen Interessenvereinigungen streng beruf-
lich gegliederte Verbände zur speziellen Wahr-
nehmung der Arbeitgeberinteressen gegenüber den
Angriffen der Arbeiterorganisationen zu setzen.
So entstanden seit den 1890er Jahren die Arbeit-
geberverbände, zunächst mit lokalem und provin-
ziellem Gepräge, später ebenso zentralistisch organi-
siert wie die Gewerkschaften. Ihr Hauptstreben
geht dahin, durch gemeinsam aufgebrachte Mittel
die Mitglieder instand zu setzen, einen Streik aus-
zuhalten, oder auch zur Abwehr eines Streiks oder
aus andern Gründen eine Aussperrung vorzu-
nehmen. Der innere Ausbau und die starke Fi-
nanzierung der Arbeitgeberverbände haben bewirkt,
daß die Aussperrung eine immer häufigere und
beliebtere Waffe in der Hand der Unternehmer
wurde.
In den letzten Jahrzehnten ist in den wichtigsten
Industrieländern eine amtliche Streikstatistik
eingeführt, die zwar noch in verschiedenen Punkten
der Vervollkommnung bedarf. Aber die geschicht-
liche Entwicklung der Streiks, ihrer Erfolge und
einiger wichtiger Begleiterscheinungen läßt sich doch
an der Hand der Statistik besser verfolgen als
früher, wo man auf zufällige, lückenhafte, oft nicht
unparteiische Berichte angewiesen war. Über die
Ausdehnung der Streiks in den letzten Jahren
sagt die Statistik folgendes (s. die erste Tabelle
auf Sp. 337/338).
Dazu sei noch bemerkt, daß in Deutschland das
Baugewerbe die meisten Streiks hat, in England
der Bergbau und das Steinbruchgewerbe, in
Osterreich, Frankreich und Belgien die Textilindu-
strie. Wenn die Zahlen für Deutschland besonders
hoch erscheinen, so darf daraus doch nicht auf eine
besonders starke Streiklust der deutschen Arbeiter
geschlossen werden. Denn die Zahl der Streiken-
den ist in Deutschland im Verhältnis zur Zahl
der Erwerbstätigen geringer als in andern Län-
dern. Für den Zeitraum 1900/04 kommen näm-
lich in Deutschland auf 1000 Erwerbstätige 8.1
Streikende, in Osterreich dagegen 13, in Frank-
reich 22, in Belgien 12, in England 8,3.— Die
hervorstechendste Tatsache, die durch die Statistik
belegt wird, ist die, daß die Streikbewegung in
den meisten Ländern, mit Ausnahme von England
und Belgien und abgesehen von einigen Schwan-
kungen in Deutschland während des letzten Jahr-
zehnts, in steigender Tendenz vorangeht. Das
mag in erster Linie ohne Zweifel durch die rasch
voranschreitende Industriealisierung der verschie-
denen Länder verursacht sein, aber es zeigt auch,
daß die Berufsverbände auf beiden Seiten ihrer
Aufgabe, den gewerblichen Frieden sicherzustellen,