Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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1672 und das Reichsgesetz von 1731 erkennen, 
die sich beide gegen den geschlossenen Widerstand 
der Gesellen richteten. Zu dem genannten Reichs- 
gesetz hatte der große Ausstand der Augsburger 
Schuhknechte den Anlaß gegeben. In England 
und Frankreich waren ebenso die Ausstände der 
Handwerksgesellen nichts Unbekanntes; in Eng- 
land suchten schon früh Gesetze von Eduard III. 
und Heinrich VI. die Streikversuche einzuschränken. 
Eine häufige und fast gewöhnliche Erscheinung 
wurde indes der Streik erst mit dem Aufkommen 
der freien Lohnarbeit gegen Ende des 18. Jahrh. 
In den Arbeitern war das Streben erwacht, selb- 
ständig die Arbeitsbedingungen mitzubestimmen; 
und da sie hierin von den Unternehmern gewalt- 
sam zurückgedrängt wurden, suchten sie sich ihr 
Recht durch Streiks zu erkämpfen. Die gräßliche 
Not, in welche die rasch emporblühende Industrie 
die Lohnarbeiter stürzte, hieß diese sich zusammen- 
rotten zu plötzlichen Aufständen. In wilden regel- 
losen Kämpfen, bei denen Morde, Fabrikbrände, 
Zerstörung von Maschinen etwas Gewöhrliches 
waren, namentlich in England, suchten sie ihre 
Lage zu verbessern; aber diese unüberlegten und 
ohne finanzielle Mittel unternommenen Streiks 
endeten fast stets mit einer völligen Niederlage. 
Die scharfen Koalitionsverbote, die damals er- 
lassen wurden, erstickten die Kampflust der Arbeiter 
nicht; sie wurde nur noch leidenschaftlicher und 
erbitterter. Erst die allmählich erstarkenden Ar- 
beiterorganisationen waren imstande, den Streiks 
eine andere Form zu geben. Sie waren ent- 
standen, nicht lediglich, um die Massen zum Kampf 
zu organisieren, sondern mit dem allgemeinen 
Zweck, die wirtschaftliche und soziale Lage der 
Arbeiter zu heben; dabei nahm unter den Mitteln 
der Gewerkschaft der Streik die Stelle der ultima 
ratio ein. Aber ebendeshalb mußte der Streik 
jetzt andere, mildere Formen annehmen. An Stelle 
des wilden Losschlagens trat ein vorsichtiges 
Prüfen und Abwögen vor dem Entschluß; die 
sich mehrenden Geldmittel der Gewerkschaften ver- 
pflichteten diese zur Vorsicht bei den stets viel Geld 
verschlingenden Kämpfen; an Stelle des Mordens 
und Brennens trat eine wirtschaftliche Kriegs- 
taktik, ein fein ausgeklügeltes System von Grund- 
sätzen und Hilfen. Freilich haben die Gewerk- 
schaften, namentlich soweit sie sozialistischen oder 
gar anarchistischen Einflüssen unterstehen, bei 
weitem nicht immer einschränkend und mildernd 
in Streikbewegungen eingegriffen; sie waren 
häufig nicht stark genug, die aufgeregten Massen 
zu zügeln, und mußten, um die Führung zu be- 
halten, von den Massen sich führen lassen. Aber 
daran ist nicht zu zweifeln, daß mit dem innern 
und äußern Wachstum der Gewerkschaften die 
Streiks seltener und weniger heftig werden, und 
daß mehr und mehr an Stelle der verheerenden 
Kämpfe feste Friedensverträge in Form von 
Tarifen treten. Das Beispiel Englands beweist 
es; und auch in Deutschland ist jetzt die Zahl der 
Streik usw. 
  
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Verhandlungen und Friedensschlüsse erheblich 
größer als die Zahl der gewerblichen Kämpfe. 
Die Aussperrungen in ihrer heutigen Form 
sind erst üblich geworden seit dem Entstehen der 
Arbeitgeberverbände. Mit dem Erstarken der Ar- 
beiterorganisationen fühlte man auf der Unter- 
nehmerseite immer mehr das Bedürfnis, neben die 
allgemeinen Interessenvereinigungen streng beruf- 
lich gegliederte Verbände zur speziellen Wahr- 
nehmung der Arbeitgeberinteressen gegenüber den 
Angriffen der Arbeiterorganisationen zu setzen. 
So entstanden seit den 1890er Jahren die Arbeit- 
geberverbände, zunächst mit lokalem und provin- 
ziellem Gepräge, später ebenso zentralistisch organi- 
siert wie die Gewerkschaften. Ihr Hauptstreben 
geht dahin, durch gemeinsam aufgebrachte Mittel 
die Mitglieder instand zu setzen, einen Streik aus- 
zuhalten, oder auch zur Abwehr eines Streiks oder 
aus andern Gründen eine Aussperrung vorzu- 
nehmen. Der innere Ausbau und die starke Fi- 
nanzierung der Arbeitgeberverbände haben bewirkt, 
daß die Aussperrung eine immer häufigere und 
beliebtere Waffe in der Hand der Unternehmer 
wurde. 
In den letzten Jahrzehnten ist in den wichtigsten 
Industrieländern eine amtliche Streikstatistik 
eingeführt, die zwar noch in verschiedenen Punkten 
der Vervollkommnung bedarf. Aber die geschicht- 
liche Entwicklung der Streiks, ihrer Erfolge und 
einiger wichtiger Begleiterscheinungen läßt sich doch 
an der Hand der Statistik besser verfolgen als 
früher, wo man auf zufällige, lückenhafte, oft nicht 
unparteiische Berichte angewiesen war. Über die 
Ausdehnung der Streiks in den letzten Jahren 
sagt die Statistik folgendes (s. die erste Tabelle 
auf Sp. 337/338). 
Dazu sei noch bemerkt, daß in Deutschland das 
Baugewerbe die meisten Streiks hat, in England 
der Bergbau und das Steinbruchgewerbe, in 
Osterreich, Frankreich und Belgien die Textilindu- 
strie. Wenn die Zahlen für Deutschland besonders 
hoch erscheinen, so darf daraus doch nicht auf eine 
besonders starke Streiklust der deutschen Arbeiter 
geschlossen werden. Denn die Zahl der Streiken- 
den ist in Deutschland im Verhältnis zur Zahl 
der Erwerbstätigen geringer als in andern Län- 
dern. Für den Zeitraum 1900/04 kommen näm- 
lich in Deutschland auf 1000 Erwerbstätige 8.1 
Streikende, in Osterreich dagegen 13, in Frank- 
reich 22, in Belgien 12, in England 8,3.— Die 
hervorstechendste Tatsache, die durch die Statistik 
belegt wird, ist die, daß die Streikbewegung in 
den meisten Ländern, mit Ausnahme von England 
und Belgien und abgesehen von einigen Schwan- 
kungen in Deutschland während des letzten Jahr- 
zehnts, in steigender Tendenz vorangeht. Das 
mag in erster Linie ohne Zweifel durch die rasch 
voranschreitende Industriealisierung der verschie- 
denen Länder verursacht sein, aber es zeigt auch, 
daß die Berufsverbände auf beiden Seiten ihrer 
Aufgabe, den gewerblichen Frieden sicherzustellen,
	        
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