Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Messer ohne Klinge u. a. stammen aus sozialisti- 
schen, meistens gewerkschaftlichen Kreisen. Die 
christliche Arbeiterschaft war stets einig in der 
Verwerfung des Generalstreiks. 
Die Durchführbarkeit eines Generalstreiks muß 
sehr bezweifelt, ja für die Praxis einfach verneint 
werden. Zunächst würde die Ausdehnung des 
Streiks immer und überall nur eine sehr mäßige 
sein; die Zersplitterung der Arbeiterschaft, das 
ablehnende Verhalten der Gewerkschaften lassen 
weder einen spontanen noch einen vorbereiteten all- 
gemeinen Ausstand der Arbeiter zustande kommen. 
Schwieriger noch ist es, eine große Masse streiken- 
der Arbeiter zum Ausharren im Streik zu ver- 
mögen. Die allgemeine Notlage, welche die Arbeiter 
durch den Generalstreik für die ganze Gesellschaft 
herbeizuführen suchten, würden sie zu allermeist zu 
fühlen bekommen. Unter der allgemeinen Lebens- 
mittelknappheit und Preissteigerung würden sie 
am empfindlichsten leiden, während es für die 
herrschenden Klassen hinsichtlich der täglichen 
Lebensmittel zahlreiche Ersatzmöglichkeiten gibt. 
Vor dem Hunger aber verblassen auch die leuch- 
tendsten sozialistischen Ziele. Bei der steigenden 
Reizbarkeit der Hungernden würden die Zusammen- 
stöße mit Arbeitswilligen in blutige Krawalle aus- 
arten und die bewaffnete Macht alsbald auf den 
Plan rufen. Ein Zusammenstoß der Streikenden 
mit der heute stets schlagfertigen und wohldiszi- 
plinierten Armee würde aber in jedem Fall für die 
ersteren verhängnisvoll werden. Allerdings haben 
einige politische Massenstreiks. Zugeständnisseseitens 
des Staats erlangt, so 1893 in Belgien, 1902 in 
Schweden, 1905 in Rußland. Aber alle diese 
einigermaßen erfolgreichen Streiks hatten den un- 
geheuern Vorteil, daß die übrige Gesellschaft ganz 
oder zum Teil dieselben politischen Wünsche hegte 
wie die Streikenden. „Nur in einer Minderheit 
der Fälle“, sagt E. Bernstein, „hat sich der Ge- 
neralstreik bisher als anwendbar, nur in ganz ver- 
einzelten Fällen als Erfolg bringend erwiesen. 
Und unter diesen vereinzelten Fällen ist kein ein- 
ziger, wo ein politischer Massenstreik Erfolg gehabt 
hätte, der von der Partei der Arbeiter allein aus- 
ging und sich gegen die konservativen sowie gegen 
die liberalen Parteien des Bürgertums samt der 
Zentralregierung gleichmäßig richtete.“ 
IV. Sittliche Beurkeilung. Die sittlich- 
rechtliche Behandlung des Streiks hat vor allem 
die Frage zu beantworten, ob die streikenden Ar- 
beiter Pflichten gegenüber den Personenkreisen 
verletzen, zu denen sie das Arbeitsverhältnis in 
sittliche Beziehungen gesetzt hat: gegenüber den 
Arbeitgebern, den Mitarbeitern, der Gesamtheit. 
Anderweitige Verletzungen der Sittengebote, die 
häufig als Begleiterscheinungen der Streiks auf- 
treten, wie Trunksucht, Angriffe auf Leben und 
Eigentum, sind keine unmittelbaren und notwen- 
digen Folgen des Streiks und können sehr wohl 
vermieden werden, wie verschiedene Maßnahmen 
der Gewerkvereine (Alkoholverbot) bei großen 
Streik usw. 
  
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Streiks der Neuzeit zeigen. Sie können daher 
wohl gegen die Rätlichkeit, nicht aber gegen die 
Erlaubtheit des Streiks angeführt werden. 
Gegenüber dem Arbeitgeber muß zunächst die 
Forderung, das Streikmotiv, gerecht und ver- 
nünftig sein. Das ist sie ganz offenbar, wenn die 
Arbeiter durch den Streik ein Unrecht abwehren 
wollen, das sie schon länger tragen. Wenn der 
Arbeitsvertrag Bedingungen enthält, welche die 
Rechte des Arbeiters nicht achten, wenn z. B. 
Löhne ausbedungen sind, die unter dem Existenz- 
minimum liegen, wenn übermenschliche Arbeits- 
dauer gefordert wird, oder wenn an sich gerechte 
Vertragsbedingungen seitens des Arbeitgebers 
offenbar und hartnäckig verletzt werden, dann ist 
der Vertrag nichtig und braucht von den Arbeitern 
nicht länger mehr eingehalten zu werden: mit an- 
dern Worten, die Arbeiter können in solchen Fällen 
vor Ablauf der vertragsmäßigen Kündigungsfrist 
in den Streik eintreten. Sie haben alsdann das 
Recht der Notwehr für sich und können hiervon 
sofort Gebrauch machen, um ein ihnen zugefügtes 
Unrecht nicht länger ertragen zu müssen. Nicht 
immer, ja — wir dürfen heute wohl sagen — in 
den allerseltensten Fällen handelt es sich um die 
Abwehr eines Unrechts. Die Arbeiter stellen 
Forderungen, zu deren Erfüllung der Arbeitgeber 
an sich ohne vertragliche Verpflichtung nicht ge- 
halten ist, und deren Nichtbewilligung kein Un- 
recht darstellt. Sie verlangen Löhne, die über das 
Existenzminimum hinausgehen, dem Wert der 
Arbeit in der Produktion besser entsprechen und 
auch zu den Gewinnraten des Unternehmens in 
besserem Einklang stehen; sie verlangen weitere 
Verkürzung der Arbeitsdauer, damit sie auch für 
andere Beschäftigungen Zeit und Muße haben 
und damit ihre Lebenskraft nicht zu früh erliegt. 
Das alles sind Forderungen, deren Nichtbewilli- 
gung seitens des Arbeitgebers kein positives Un- 
recht darstellt. Aber doch sind die Arbeiter mit 
solchen Wünschen im Recht, solange sie eben nichts 
Unerfüllbares und Ungerechtes fordern. Sie haben 
ein Recht darauf, ihre materielle Lage nach Kräften 
zu verbessern, soweit sie hierdurch Rechte anderer 
nicht verletzen. Sie können, um auf das weitaus 
häufigste Streikmotiv einzugehen, einen höheren 
Lohn fordern, solang er die obere Grenze des 
gerechten Lohns nicht überschreitet. Nun ist es 
freilich nicht ebensoleicht, die obere Grenze des 
gerechten Lohns festzustellen als die untere, die 
mit dem Existenzminimum zusammenfällt. Man 
könnte wohl als obere Grenze einen solchen Lohn 
bezeichnen, bei welchem dem Unternehmer die 
günstige Fortentwicklung seines Betriebs und ein 
genügender standesgemäßer Gewinn gesichert ist. 
Über die konkrete Gestaltung dieses Höchstlohns 
eine Einigung der beiden Parteien zu erzielen, 
wird nicht leicht möglich sein. Die Arbeiter werden 
geneigt sein, ihn möglichst hoch anzusetzen und 
ihre Forderungen möglichst hoch zu stellen. Daß 
sie aber tatsächlich auch durch einen Streik einen
	        
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