19
stand ergänzt sich also ausschließlich aus dem
Kriegerstand, und die wesentliche Vorbedingung
für die Führung der Herrschaft ist die philosophi-
sche Ausbildung. Als spätestes Lehrobjekt ist den
Gereiftesten die Erkenntnis der Idee des Guten
vorbehalten. Von den Gebieten der Kunst werden
nur diejenigen geübt, die eine Nachahmung des
Guten darstellen (philosophische Dramen, sittlich
gereinigte Mythen, Lobpreisungen von Göttern
und edeln Menschen usw.). Auch das Schöne steht
also unter dem Guten.
Platon mochte wohl selbst einsehen, daß ein
solches Staatswesen sich für die rauhe Wirklichkeit
nicht eigne. Darum konstruiert er in den Nout
(De legibus) noch einen „zweitbesten“ Staat, der
sich mehr an die gegebenen Verhältnisse anschließt,
und in welchem manche Schroffheiten der Theorie
des „besten“ Staats gemildert erscheinen. Hier
ist das Land radial in zwölf Bezirke und 5040
gleich ertragfähige Lose geteilt, von denen jedes
ausreichend ist, eine Familie zu ernähren: somit
sind die mit besserem Boden schmäler als die mit
schlechterem, und die entlegeneren breiter. Die Lose
vererben sich auf den ältesten Sohn und sind un-
veräußerlich. In der Mitte der zwölf Bezirke
liegt die Hauptstadt oder der Marktflecken. Die
Polizeigewalt ist unter den Stadtmeister, den
Marktmeister und den Landesverwalter verteilt;
neben der höchsten Verwaltungsbehörde steht ein
Rat; dann folgen allerlei engere Ausschüsse; die
Spitze des Staats bilden die 37 Gesetzwächter.
Alle diese Beamten gehen aus Volkswahlen her-
vor. Wie das Privateigentum wird in diesem
zweitbesten Staat auch die Ehe zugestanden. Die
Bildung der Herrscher wird nicht mehr auf die
Ideenlehre begründet; an die Stelle ihrer Weis-
heit tritt vielmehr das Gesetz. — Auch in dem
Fragment „Kritias“ kommt Platon auf seine
Staatstheorien zurück.
Ebenso darf die „Kyropädie“ Tenophons zu
den Staatsromanen gezählt werden, insofern we-
nigstens, als sie in der Person des Kyros das
Ideal eines Monarchen und damit einer mon-
archischen Verfassung zu zeichnen sucht. Was wir
hier von der Erziehung des Königs, von den Sitten
und Gebräuchen sowie von der Verwaltung des
persischen Landes erfahren, das ist alles roman-
haft — selbst allbekannte historische Tatsachen
werden gesälscht — und hat augenscheinlich die
Absicht, die Vorzüge der monarchischen Verfassung
und das Glück, dessen sich das Volk unter einer
solchen erfreut, in reichen Farben zu schildern. —
Als Vertreter dieser Dichtungsart bei den Grie-
chen können in gewisser Hinsicht ferner noch gelten:
Hekataios von Teos oder Abdera, der das glückliche
und unschuldige Volk der Hyperboreer auf der
Insel Helix5a im nördlichen Ozean schildert;
Euhemeros, der das Walten der Götter Uranos,
Kronos und Zeus vor ihrer Vergöttlichung auf
der Insel Panchaia beschreibt, und Jambulos, der
uns über ein glückseliges Volk auf einer Insel in
Staatsromane.
20
der Südsee berichtet, wo Tag und Nacht stets
gleich und Ol und Wein sowie allerlei seltene
Pflanzen und Früchte in Fülle vorhanden sind.
In der christlichen Zeit treten die Staats-
romane zunächst zurück. Bis zum Ausgang des
Mittelalters treffen wir keinen an, wenn man nicht
etwa die chiliastischen Träumereien dazu rechnen
will. Der erste und berühmteste Staatsroman der
neueren Zeit ist die 1516 zu Löwen erschienene
lateinische Utopia (letzte Ausgabe von Churchton
Collins, Oxford 1904; deutsch zuerst 1524, zu-
letzt von Wessely 1826; auch in Reclams Uni-
versalbibliothek) von Thomas Morus (1480
bis 1535), dem Lordkanzler Heinrichs VIII. von
England. Der Held dieses Buches hatte sich dem
Americus Vespucius auf seiner Entdeckungsreise
angeschlossen, und da er längere Zeit in den neu
entdeckten Ländern sich aufgehalten hatte, so war
er während dieser Zeit zufällig auf die Insel
Utopia gekommen und hatte das dort bestehende
kommunistische Staats= und Gesellschaftswesen
kennen gelernt, das auf den Ackerbau und auf die
Viehzucht gegründet ist. Diese Insel zählt 54 ganz
gleichmäßig angelegte Städterepubliken. Jeder
Stadt ist ein Minimum von 20 000 Schritten
Grundgeländes zugewiesen, dessen Bebauung unter
einzelnen Ackerbaufamilien verteilt ist. Alljährlich
kehren 20 Ackerbauern, die zwei Jahre Ackerbau
getrieben haben, in die Stadt zurück und werden
durch 20 andere ersetzt. Die Arbeitszeit ist auf
täglich 6 Stunden angesetzt. Es gibt jedoch kein
Privateigentum. Alle Früchte, die aus Ackerbau
und Viehzucht auf dem Land gewonnen worden,
werden in die Stadt gebracht und dort als gemein-
sames Eigentum aufbewahrt. Daraus wird dann
der Unterhalt aller bestritten. In jedem Stadt-
viertel befindet sich ein Markt, wo die Familien-
väter alles ohne Entgelt erhalten, was sie wün-
schen. Die Mahlzeiten sind gemeinschaftlich. Die
Trompete verkündet die Stunde ihres Anfangs,
und eine kurze Lektüre aus einem moralischen Buch
leitet sie ein. Die Männer sitzen an der Wandseite,
die Frauen gegenüber. Altere und jüngere Leute
sitzen gemischt. Ist das Mittagessen kurz, so das
Abendbrot lang und mit allem Komfort ausge-
stattet (Musik, Dessert, Parfüms). Die ackerbau-
treibende Landbevölkerung speist natürlich allein
außerhalb der Stadt. Die Jünglinge dürfen nicht
vor dem 22., die Jungfrauen nicht vor dem
18. Lebensjahr heiraten. Bräutigam und Braut
werden vor der Verheiratung genau miteinander
bekannt gemacht, um nicht nachträglich Täuschungen
zu erleben. Scheidungen gehören zu den größten
Seltenheiten. Der Ehebruch wird mit der härtesten
Sklaverei bestraft, im Rückfall mit dem Tod. Kauf
und Verkauf treiben die Utopier untereinander
selbst nicht, das Geld ist bei ihnen außer Gebrauch.
Nur im Verkehr mit andern Völkern lassen sie
Handel und Wandel zu. Den Krieg verabscheuen
sie zwar; aber da er doch in manchen Fällen not-
wendig ist, z. B. zum Zweck des Schutzes der eignen.