Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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stand ergänzt sich also ausschließlich aus dem 
Kriegerstand, und die wesentliche Vorbedingung 
für die Führung der Herrschaft ist die philosophi- 
sche Ausbildung. Als spätestes Lehrobjekt ist den 
Gereiftesten die Erkenntnis der Idee des Guten 
vorbehalten. Von den Gebieten der Kunst werden 
nur diejenigen geübt, die eine Nachahmung des 
Guten darstellen (philosophische Dramen, sittlich 
gereinigte Mythen, Lobpreisungen von Göttern 
und edeln Menschen usw.). Auch das Schöne steht 
also unter dem Guten. 
Platon mochte wohl selbst einsehen, daß ein 
solches Staatswesen sich für die rauhe Wirklichkeit 
nicht eigne. Darum konstruiert er in den Nout 
(De legibus) noch einen „zweitbesten“ Staat, der 
sich mehr an die gegebenen Verhältnisse anschließt, 
und in welchem manche Schroffheiten der Theorie 
des „besten“ Staats gemildert erscheinen. Hier 
ist das Land radial in zwölf Bezirke und 5040 
gleich ertragfähige Lose geteilt, von denen jedes 
ausreichend ist, eine Familie zu ernähren: somit 
sind die mit besserem Boden schmäler als die mit 
schlechterem, und die entlegeneren breiter. Die Lose 
vererben sich auf den ältesten Sohn und sind un- 
veräußerlich. In der Mitte der zwölf Bezirke 
liegt die Hauptstadt oder der Marktflecken. Die 
Polizeigewalt ist unter den Stadtmeister, den 
Marktmeister und den Landesverwalter verteilt; 
neben der höchsten Verwaltungsbehörde steht ein 
Rat; dann folgen allerlei engere Ausschüsse; die 
Spitze des Staats bilden die 37 Gesetzwächter. 
Alle diese Beamten gehen aus Volkswahlen her- 
vor. Wie das Privateigentum wird in diesem 
zweitbesten Staat auch die Ehe zugestanden. Die 
Bildung der Herrscher wird nicht mehr auf die 
Ideenlehre begründet; an die Stelle ihrer Weis- 
heit tritt vielmehr das Gesetz. — Auch in dem 
Fragment „Kritias“ kommt Platon auf seine 
Staatstheorien zurück. 
Ebenso darf die „Kyropädie“ Tenophons zu 
den Staatsromanen gezählt werden, insofern we- 
nigstens, als sie in der Person des Kyros das 
Ideal eines Monarchen und damit einer mon- 
archischen Verfassung zu zeichnen sucht. Was wir 
hier von der Erziehung des Königs, von den Sitten 
und Gebräuchen sowie von der Verwaltung des 
persischen Landes erfahren, das ist alles roman- 
haft — selbst allbekannte historische Tatsachen 
werden gesälscht — und hat augenscheinlich die 
Absicht, die Vorzüge der monarchischen Verfassung 
und das Glück, dessen sich das Volk unter einer 
solchen erfreut, in reichen Farben zu schildern. — 
Als Vertreter dieser Dichtungsart bei den Grie- 
chen können in gewisser Hinsicht ferner noch gelten: 
Hekataios von Teos oder Abdera, der das glückliche 
und unschuldige Volk der Hyperboreer auf der 
Insel Helix5a im nördlichen Ozean schildert; 
Euhemeros, der das Walten der Götter Uranos, 
Kronos und Zeus vor ihrer Vergöttlichung auf 
der Insel Panchaia beschreibt, und Jambulos, der 
uns über ein glückseliges Volk auf einer Insel in 
Staatsromane. 
  
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der Südsee berichtet, wo Tag und Nacht stets 
gleich und Ol und Wein sowie allerlei seltene 
Pflanzen und Früchte in Fülle vorhanden sind. 
In der christlichen Zeit treten die Staats- 
romane zunächst zurück. Bis zum Ausgang des 
Mittelalters treffen wir keinen an, wenn man nicht 
etwa die chiliastischen Träumereien dazu rechnen 
will. Der erste und berühmteste Staatsroman der 
neueren Zeit ist die 1516 zu Löwen erschienene 
lateinische Utopia (letzte Ausgabe von Churchton 
Collins, Oxford 1904; deutsch zuerst 1524, zu- 
letzt von Wessely 1826; auch in Reclams Uni- 
versalbibliothek) von Thomas Morus (1480 
bis 1535), dem Lordkanzler Heinrichs VIII. von 
England. Der Held dieses Buches hatte sich dem 
Americus Vespucius auf seiner Entdeckungsreise 
angeschlossen, und da er längere Zeit in den neu 
entdeckten Ländern sich aufgehalten hatte, so war 
er während dieser Zeit zufällig auf die Insel 
Utopia gekommen und hatte das dort bestehende 
kommunistische Staats= und Gesellschaftswesen 
kennen gelernt, das auf den Ackerbau und auf die 
Viehzucht gegründet ist. Diese Insel zählt 54 ganz 
gleichmäßig angelegte Städterepubliken. Jeder 
Stadt ist ein Minimum von 20 000 Schritten 
Grundgeländes zugewiesen, dessen Bebauung unter 
einzelnen Ackerbaufamilien verteilt ist. Alljährlich 
kehren 20 Ackerbauern, die zwei Jahre Ackerbau 
getrieben haben, in die Stadt zurück und werden 
durch 20 andere ersetzt. Die Arbeitszeit ist auf 
täglich 6 Stunden angesetzt. Es gibt jedoch kein 
Privateigentum. Alle Früchte, die aus Ackerbau 
und Viehzucht auf dem Land gewonnen worden, 
werden in die Stadt gebracht und dort als gemein- 
sames Eigentum aufbewahrt. Daraus wird dann 
der Unterhalt aller bestritten. In jedem Stadt- 
viertel befindet sich ein Markt, wo die Familien- 
väter alles ohne Entgelt erhalten, was sie wün- 
schen. Die Mahlzeiten sind gemeinschaftlich. Die 
Trompete verkündet die Stunde ihres Anfangs, 
und eine kurze Lektüre aus einem moralischen Buch 
leitet sie ein. Die Männer sitzen an der Wandseite, 
die Frauen gegenüber. Altere und jüngere Leute 
sitzen gemischt. Ist das Mittagessen kurz, so das 
Abendbrot lang und mit allem Komfort ausge- 
stattet (Musik, Dessert, Parfüms). Die ackerbau- 
treibende Landbevölkerung speist natürlich allein 
außerhalb der Stadt. Die Jünglinge dürfen nicht 
vor dem 22., die Jungfrauen nicht vor dem 
18. Lebensjahr heiraten. Bräutigam und Braut 
werden vor der Verheiratung genau miteinander 
bekannt gemacht, um nicht nachträglich Täuschungen 
zu erleben. Scheidungen gehören zu den größten 
Seltenheiten. Der Ehebruch wird mit der härtesten 
Sklaverei bestraft, im Rückfall mit dem Tod. Kauf 
und Verkauf treiben die Utopier untereinander 
selbst nicht, das Geld ist bei ihnen außer Gebrauch. 
Nur im Verkehr mit andern Völkern lassen sie 
Handel und Wandel zu. Den Krieg verabscheuen 
sie zwar; aber da er doch in manchen Fällen not- 
wendig ist, z. B. zum Zweck des Schutzes der eignen.
	        
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