Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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in dem ganzen so fein verschlungenen Wirtschafts- 
organismus, in der Gesamtwohlfahrt eines Volks 
hervor. Bei jedem Streik ist daher ein größerer 
oder kleinerer Teil der Gesellschaft interessiert. Es 
gibt aber eine Reihe gewerblicher und ländlicher 
Berufe, an deren ruhiger ungestörter Arbeit die 
Gesellschaft ein ganz hervorragendes Interesse hat. 
Das sind z. B. die Verkehrsgewerbe, deren Unter- 
brechung ein plötzliches Zerschneiden aller Fäden 
des Wirtschaftsorganismus bedeutet; ferner die 
Nahrungsmittelgewerbe, deren Stillstand für weite 
Kreise einen plötzlichen Notstand hervorruft; die 
landwirtschaftlichen Berufe, zumal zur Erntezeit; 
der Bergbau, der zahlreiche Industrien mit Heiz- 
material versieht; die staatlichen Werkstätten usw. 
Die Arbeiter in diesen Berufen, also die Eisen- 
bahner, die Arbeiter im Post-, Telegraphen= und 
Telephondienst, die Bäcker, Fleischer, die länd- 
lichen Arbeiter, die Bergleute, die Arbeiter in 
öffentlichen Betrieben müssen sich stets bewußt sein, 
daß sie Dienstleistungen verrichten, die nach einem 
Ausdruck von Rodbertus „zum Leben des sozialen 
Körpers notwendig sind“, und daß sie darum kraft 
ihres Berufs der Gesellschaft in besonderem Maß 
verpflichtet sind. Sie würden daher durch einen 
Streik eine besonders schwere Verantwortung auf 
sich laden, und wenn überall die Regel gelten muß, 
daß nur aus einem sehr wichtigen Grund der Streik 
beschlossen werden darf, so müssen die Arbeiter in 
diesen Berufen mit allem Ernst sich die Frage 
vorlegen, ob die Streikforderung und der even- 
tuelle Erfolg in richtigem Verhältnis steht zu den 
gesellschaftlichen Nachteilen, die der Streik in ihrer 
Branche nach sich zieht. Ein Streik, für den nicht 
die wichtigsten Gründe sprechen, wäre wegen des 
in Frage stehenden allgemeinen Wohls unerlaubt. 
Das Streikrecht diesen Arbeitern völlig abzu- 
sprechen, ginge nun freilich zu weit; aber es er- 
leidet infolge der Natur des Berufs eine Be- 
schränkung. Als Ersatz dafür möge ihnen in 
einigen Branchen beamtenähnliche Stellung, all- 
gemein besserer Arbeiterschutz und ein leicht funk- 
tionierendes Einigungs= und Schiedswesen zu teil 
werden. — Wegen der großen Gefahr, die bei 
einem Generalstreik der Gesamtheit wie dem 
Staatswesen droht, erscheint diese Art Streik vom 
Standpunkt der Moral als durchaus verwerflich. 
Zusammenfassend können wir den Streik als 
sittlich erlaubt hinstellen, wenn der Zweck ein ge- 
rechter und billiger ist, wenn die Durchführung 
keine Rechts= und Liebespflicht verletzt und wenn 
der Streik, nachdem andere Versuche gescheitert 
sind, als einziges Mittel noch übrig bleibt, zum 
gewünschten Ziel zu kommen. Dieselben Grund- 
sätze kommen auch bei dem sittlichen Urteil über 
die Aussperrung zur Anwendung, und zwar auch 
hier drei Personenkreisen gegenüber: den durch 
die Aussperrung betroffenen Arbeitern, den mit- 
aussperrenden Arbeitgebern und der Gesamtheit 
gegenüber. Auf einige Besonderheiten sei hier 
hingewiesen: Hinsichtlich der Arbeiter kann durch 
Streik ufw. 
  
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die Aussperrung viel leichter und häufiger die 
Liebespflicht verletzt werden als beim Streik, da 
beim ausgesperrten Arbeiter viel eher eine Notlage 
eintritt als bei dem durch einen Streik heim- 
gesuchten Unternehmer. Wenn Hunderte von Ar- 
beitern plötzlich ausgesperrt werden und nicht so 
bald Beschäftigung finden und auch nicht von 
Kassen unterstützt werden, wie z. B. die Unorgani- 
sierten, so stellt sich rasch für viele ein wirklicher 
Notstand ein, der durch den Arbeitgeber verursacht 
ist und, wie die Verhältnisse oft liegen, durch ihn 
allein behoben werden kann. — Wenn der aus- 
sperrende Arbeitgeber durch „schwarze Listen“ die 
Ausgesperrten von Firmen desselben Gewerbes 
fernzuhalten sucht, so ist das an und für sich kein 
unerlaubtes Kampfmittel; es entspricht dem Fern- 
halten von Zuzug seitens der Arbeiter beim Streik. 
Wenn aber durch solche schwarze Listen mißliebige 
Arbeiter dauernd verfemt und dauernd aus ihrer 
berufsmäßigen Beschäftigung hinausgedrängt wer- 
den, so verstößt das gegen die einfachsten Grund- 
sätze der Gerechtigkeit. — Daß Unternehmer aus 
Solidaritätsgefühl gegen andere Unternehmer wäh- 
rend einer Aussperrung ähnliche physische Gewalt- 
akte ausüben, wie Streikende gegen Streikbrecher, 
ist durch die Lage der Verhältnisse ausgeschlossen. 
Aber doch kann auch hier die Liebe verletzt werden, 
wenn z. Bl kleineren Arbeitgebern zu ihrem großen 
materiellen Schaden die gewohnte Beschäftigung 
unmöglich gemacht wird, wie durch die Materialien= 
sperre im Baugewerbe. — Daß die Unternehmer 
in gewissen sozial besonders notwendigen Berufs- 
arten zu denselben Rücksichtnahmen gegenüber der 
Gesamtheit verpflichtet sind, wie die Arbeiter, und 
durch eine Aussperrung eine hervorragend schwere 
Verantwortung übernehmen, bedarf keiner Er- 
örterung. 
V. Vorbeugung und Schlichtung. Mit 
dem Nachweis der unter gewissen Verhältnissen 
nicht zu bezweifelnden Erlaubtheit von Streik und 
Aussperrung soll natürlich kein Ansporn zu Ar- 
beitskämpfen gegeben sein. Diese sind und bleiben 
ein schwerer Übelstand und lassen stets auf anor- 
male, krisenhafte Zustände im Innern der Gesell- 
schaft schließen. Sie nach Kräften zu verhüten, 
ist daher die Aufgabe aller in Betracht kommen- 
den gesellschaftlichen Faktoren. Daß christliche 
Gesinnung auf beiden Seiten und eine wahrhaft 
christliche Auffassung von Arbeit und Person die 
beste Gewähr ist für ein harmonisches Zusammen- 
wirken von Kapital und Arbeit und für die Hintan- 
haltung von Kämpfen, unterliegt keinem Zweifel. 
Doch diese Wahrheit, die nie überall beachtet 
wird, macht die mehr konkreten Mittel zur Streik- 
verhütung nicht überflüssig. Als ein solches kommt 
in erster Linie der die Ursachen von Arbeits- 
kämpfen hebende staatliche Arbeiterschutz in Be- 
tracht, auf den Papst Leo XIII. in seiner Enzy- 
klika Rerum novarum nach der am meisten be- 
rechtigten Deutung hinweist. Es heißt dort: 
„Demgegenüber (dem Streik gegenüber) es ist am
	        
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