Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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andere zeitliche Gewalt zugeteilt worden, die vom 
Staat ausdrücklich oder stillschweigend zugestanden 
wurde und daher auch vom Staat beliebig zurück- 
genommen werden kann. 26) Die Kirche hat kein 
angebornes und gesetzmäßiges Recht auf Erwerb 
und Besitz. 27) Die geweihten Diener der Kirche 
und der römische Papst sind von aller Obsorge 
und Herrschaft über zeitliche Dinge durchaus aus- 
zuschließen. 28) Die Bischöfe dürfen ohne Er- 
laubnis der Staatsregierung nicht einmal Apo- 
stolische Schreiben veröffentlichen. 29) Die vom 
römischen Papst verliehenen Gnaden müssen für 
ungültig angesehen werden, wenn sie nicht durch die 
Staatsregierung nachgesucht worden sind. 30) Die 
Immunität der Kirche und der kirchlichen Per- 
sonen hatte ihren Ursprung aus dem bürgerlichen 
Recht. 31) Die kirchliche Gerichtsbarkeit für die 
weltlichen Zivil= und Kriminalsachen der Kleriker 
ist durchaus abzuschaffen, selbst ohne Befragen und 
gegen den Einspruch des Apostolischen Stuhls. 
32) Ohne irgend eine Verletzung des natürlichen 
Rechts und der Billigkeit kann die persönliche Im- 
munität abgeschafft werden, durch welche die Kle- 
riker von der Last der Ubernahme und Ausübung 
des Kriegsdienstes befreit sind; diese Abschaffung 
erfordert aber der staatliche Fortschritt, besonders 
in einer Gesellschaft mit freierer Regierungsform. 
33) Es kommt nicht einzig der kirchlichen Juris- 
diktionsgewalt zu, aus eignem und angebornem 
Recht den theologischen Unterricht zu leiten. 34) Die 
Lehre derjenigen, welche den römischen Papst mit 
einem freien und in der ganzen Kirche seine Macht 
ausübenden Fürsten vergleicht, ist eine Lehre, 
welche im Mittelalter zur vorherrschenden Geltung 
gelangte. 35) Nichts verbietet, durch den Spruch 
eines allgemeinen Konzils oder durch die Tat 
aller Völker das Papsttum vom römischen Bischof 
und von der Stadt (Rom) auf einen andern 
Bischof und eine andere Stadt zu übertragen. 
36) Die Entscheidung eines Nationalkonzils läßt 
keine weitere Erörterung zu, und die Staats- 
regierung kann eine Sache zu dieser Entscheidung 
bringen. 37) Es können der Autorität des römi- 
schen Papstes entzogene und von ihr ganz ge- 
trennte Nationalkirchen errichtet werden. 38) Zur 
Trennung der Kirche in eine morgenländische und 
abendländische haben die allzu großen Willkürlich- 
keiten der römischen Päpste beigetragen. 
§ 6. Irrtümer über den Staat, so- 
wohl an sich als auch nach seinen Be- 
ziehungen zu der Kirche. 39) Der Staat 
besitzt als Ursprung und Quelle aller Rechte ein 
gewisses unbeschränktes Recht. 40) Die Lehre der 
katholischen Kirche ist dem Wohl und Vorteil der 
menschlichen Gesellschaft zuwider. 41) Der Staats- 
gewalt kommt, selbst wenn sie von einem ungläu- 
bigen Fürsten ausgeübt wird, eine indirekte nega- 
tive Gewalt in Religionssachen zu; ihr eignet also 
nicht nur das Recht des sog. Exequatur, sondern 
auch das Recht der sog. Appellation wegen Miß- 
brauchs (ab abusu). 42) Bei einem Widerspruch 
Syllabus. 
  
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der Gesetze beider Gewalten geht das bürgerliche 
Recht vor. 43) Die weltliche Gewalt hat die Macht, 
feierliche Verträge (sog. Konkordate), welche über 
die Ausübung der zur kirchlichen Immunität ge- 
hörigen Rechte mit dem Apostolischen Stuhl ge- 
schlossen worden sind, ohne dessen Einwilligung, 
ja gegen seinen Widerspruch zu brechen, für nichtig 
zu erklären und außer Kraft zu setzen. 44) Die 
Staatsgewalt kann sich in Sachen der Religion, 
der Moral und des geistlichen Regiments mischen. 
Sie kann daher über die Anweisungen urteilen, 
welche die Hirten der Kirche von Amts wegen zur 
Leitung der Gewissen erlassen, ja sie kann sogar 
über die Ausspendung der Sakramente und die zu 
ihrem Empfang notwendigen Dispositionen Be- 
stimmungen treffen. 45) Die ganze Leitung der 
öffentlichen Schulen, in welchen die Jugend irgend 
eines christlichen Staats erzogen wird, nur die 
bischöflichen Seminarien in etwa ausgenommen, 
kann und muß der Staatsgewalt zugeteilt werden, 
und zwar so, daß kein Recht irgend einer andern 
Autorität, sich in die Schulzucht, in die Leitung 
der Studien, Verleihung der Grade und in die 
Wahl oder Bestätigung der Lehrer einzumischen, 
anerkannt wird. 46) Ja selbst in den Klerikal- 
seminarien unterliegt der einzuhaltende Studien- 
plan der Staatsgewalt. 47) Die beste Staats- 
einrichtung erfordert, daß die Volksschulen, welche 
allen Kindern jeglicher Volksklasse offen stehen, 
und die öffentlichen Anstalten überhaupt, welche 
für den wissenschaftlichen höheren Unterricht und 
die Erziehung der Jugend bestimmt sind, aller 
Autorität, Leitung und Einwirkung der Kirche 
entzogen und vollständig der Willkür der welt- 
lichen und politischen Autorität unterworfen seien, 
nach dem Belieben der Regierenden und nach der 
Richtschnur der gewöhnlichen Meinungen der Zeit. 
48) Katholische Männer können jene Art von 
Jugenderziehung gutheißen, welche vom katho- 
lischen Glauben und der Gewalt der Kirche ab- 
getrennt ist, und nur die Kenntnis der natürlichen 
Dinge und die Zwecke des irdischen sozialen Lebens 
ausschließlich oder wenigstens in erster Linie im 
Auge hat. 49) Die Staatsgewalt darf es ver- 
hindern, daß die Bischöse und die gläubigen 
Völker mit dem römischen Papst frei und gegen- 
seitig verkehren. 50) Die weltliche Obrigkeit hat 
von sich aus das Recht, Bischöfe zu präsentieren, 
und kann von ihnen verlangen, daß sie die Ver- 
waltung ihrer Diözesen antreten, bevor sie vom 
Heiligen Stuhl die kanonische Einsetzung und die 
Apostolischen Schreiben erhalten haben. 51) Die 
wellliche Regierung hat sogar das Recht, die Bi- 
schöfe von der Ausübung ihres Hirtenamts zu ent- 
heben, und ist nicht verpflichtet, in dem was die 
Errichtung von Bistümern und die Einsetzung der 
Bischöfe betrifft, dem römischen Papst zu gehorchen. 
52) Die Regierung kann aus eignem Recht das 
von der Kirche zur Profeßablegung sowohl bei 
Frauen als Männern vorgeschriebene Alter ab- 
ändern und allen religiö5sen Genossenschaften vor-
	        
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