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Tarifanhänger geworden sind, soweit eben der
Programmsozialismus hier theoretische Einsicht
erlaubt. Die Welt= und Moralauffassung der
christlichen Gewerkschaften muß ja selbstverständlich
mit unwiderstehlicher Logik aus den sozialwirt-
schaftlichen Tatsachen die Konsequenz der sittlichen
Tarifforderung und der lebendigen Tarifpraxis
ziehen. Ahnlich traten die Hirsch -Dunckerschen
Gewerkvereine kraft ihrer Auffassung von der Har-
monie der Arbeitgeber= und Arbeitnehmerinter-
essen von Anfang an für Tarifverträge ein. Auch
bei den Fachabteilungen des Berliner Verbands
katholischer Arbeitervereine drängt die Theorie zur
Forderung der Tarifverträge. So strebt heute
unsere gesamte einheimische organisierte Arbeiter-
schaft einmütig nach Abschluß des Arbeitsvertrags
auf korporativem Wege, und es wird wohl nur
eine Frage der Zeit sein, wann auch das Gebiet
der Großindustrie dem Arbeitsvertrag der Neuzeit
erschlossen wird. Es wird das um so eher ge-
schehen, je härter die Zusammenstöße zwischen
Kapital und Arbeit werden. Wenn auch der
Tarifvertrag den Frieden, wenigstens über seine
eigne Geltungsdauer hinaus nicht zu garantieren
vermag, so gewöhnt er doch die gegnerischen Par-
teien an das schiedlich -friedliche Miteinander-
arbeiten, er erzieht zur gegenseitigen Duldung,
und diese ist wiederum nur eine Vorstufe der
achtungsvollen Anerkennung der gewerblichen Be-
deutung und der sozialen Würde der Gegen-
partei. So schwindet doch dank konstitutioneller
Einrichtungen manches Mißverstehen und Miß-
gönnen, das noch beide Stände trennt und den
einen unzugänglich macht für die Vorteile des
andern.
2. Statistisches. Je mehr Aufmerksamkeit
man allseitig den Tarifverträgen wegen ihrer
sozial sanierenden Bedeutung zuwandte, desto
stärker wurde das Bedürfnis nach einer genau
orientierenden Tarifstatistik. Private Sozial-
und Wirtschaftsstatistiker wie auch Berufsorgani-
sationen haben sich auf diesem Gebiet mit teil-
weisem, nie aber mit völligem Erfolg versucht.
Da nahm sich das Reichsamt des Innern in
seiner Arbeiterstatistischen Abteilung der Sache
anz seit 1903 veröffentlicht es, zuletzt im Reichs-
arbeitsblatt, Ubersichten über Zahl, Inhalt und
formelle Beschaffenheit der bestehenden Tarif-
verträge. Das Material hierzu liefern die Or-
ganisationen der Tarifinteressenten, also die
Arbeitgebervereinigungen und die Arbeitergewerk-
schaften. Erstere ziehen sich dauernd die Miß-
billigung des Amts zu wegen ihrer mangelhaften
und vor allem ihrer äußerst lückenhaften Bericht-
erstattung, während die Gewerkschaften durchweg
das Amt gewissenhaft und sachkundig bedienen.
Die im Nov. 1909 veröffentlichte Erhebung des
Amts, die sorgfältiger als bisher das Material
sammelte und sichtete und so Mängel der bis-
herigen Statistik zum großen Teil beseitigte, be-
richtet, daß im Reichsgebiet Ende 1908 5671
Tarifverträge.
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Tarifverträge für 120 401 Betriebe mit 1 026 435
Personen Geltung hatten; davon waren 1908
abgeschlossen oder erneuert worden 2252 Verträge
für 50 459 Betriebe mit 411265 Personen; im
Lauf des Jahrs 1908 waren 1961 Verträge für
37 852 Betriebe mit 349 298 Personen ab-
gelaufen. Ein weiterer Vergleich der Zahlen mit
denen der Vorjahre ist nicht angängig, weil die
Maximen der Zählung andere geworden sind.
Immerhin läßt sich erkennen, daß unter dem Druck
der wirtschaftlichen Krise die Neuabschlüsse von
Verträgen stark zurückgingen, eine selbstverständ-
liche Tatsache, die auf das Abnehmen der ge-
werkschaftlichen Initiative in Zeiten schlechten
Geschäftsgangs zurückzuführen ist. Nur in Ge-
werben, wo sich die tarifliche Ordnung schon
beiden Parteien unentbehrlich gemacht hat, werden
die Unternehmer auch dann auf Vereinbarungen
drängen, sie sogar mit Zugeständnissen an die Ar-
beiter erkaufen, wenn auch die Konjunktur sie vor
Angriffsstreiks sicherstellt. So gelang es z. B. den
Buchdruckern bei ihrer vorletzten Tariferneuerung
trotz Daniederliegens des Gewerbes eine erheb-
liche Lohnsteigerung und sonstige Verbesserungen
zu erzielen. Im allgemeinen aber dürfen die
Tariffreunde vorläufig zufrieden sein, wenn eine
Krise mit ihrem Lohndruck und ihren Arbeiter-
entlassungen den Bestand vorhandener Korporativ=
verträge nicht mindert. Diese Genugtuung gibt
uns die letzte Tarifstatistik und beweist damit, daß
diejenigen recht hatten, die von einer korporativen
paritätischen, langfristigen Reglung der Haupt-
normen des Arbeitsvertrags stabilere Einkommens-
verhältnisse für den Arbeiter und mehr sich gleich
bleibende Lohnausgaben für den Unternehmer er-
hofften.
Auf die einzelnen Gewerbegruppen verteilten sich
die für den 31. Dez. 1908 gezählten Tarifverträge
wie folgt; die letzte Rubrik gibt den Prozentsatz der
nach dieser Zählung unter Tarif arbeitenden Per-
sonen an zur Zahl derjenigen, die nach der letzten
gewerblichen Betriebszählung vom 12. Juni 1907
als Arbeiter beiderlei Geschlechts in den einzelnen
Gewerbegruppen beschäftigt waren.
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Gewerbegruppen S 8 —x
3 S E Ez
1 685
5 52 287 0.2
435342
537 12 361 104 197 5.1
22 18410732 1.0
67|1496 18187| 7.9
135 24155 882 77
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— 112 839 14,6
656 4718 62924 5.1
. 4 5 15 119 2 145 7,1
20 10410 960 0,4
2069 52 405 423 072 271
13 8581 75536 .36,2
293 973 28320 13
309 2614 21055 5.2
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184 629 28641 —