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seinem Ersatz gleichzeitig in Deutschland ein an-
derer Staatsroman unter dem Titel: Christiano-
politanae reipublicae descriptio, von dem
schwäbischen lutherischen Theologen Valentin
Andreä (1586/1654). Dieser „christliche Staat"“
betont mehr das christlich religiöse Leben nach
pietistisch-lutherischer Auffassung; die Darstellung
ist jedoch zumeist pedantisch und langweilig. Aber
auch anderwärts fand diese Dichtungsart von jetzt
an immer mehr Anklang. Wollte doch selbst Bacon
von Verulam (1561/1626) sich darin versuchen,
indem er die Nova Atlantis (erschien zwischen
1621 und 1626) schrieb, von der sich allerdings nur
ein kleines Bruchstück in seinem Nachlaß vorfand.
Ihm folgte John Barclay, welcher die Argenis
(Par. 1621, deutsch von M. Opitz, Amsterdam
1644, und von Waltz, 1891) schrieb, die große
Berühmtheit erlangte. Dann erschien die Oceana
(Lond. 1656) des englischen Demokraten Jakob
Harrington, die Aufsehen machte und Jahre
hindurch eine Flut von Broschüren veranlaßte.
Der Verfasser widmete seine Schrift Cromwell und
hoffte diesen damit von der Vortrefflichkeit einer
repräsentativen Demokratie mit gewählten Magi-
straten von kurzer Amtsdauer überzeugen zu können.
Für seinen Idealstaat entwirft er daher eine Ver-
fassung, die auf diesem Prinzip aufgebaut ist. Die
gesetzgebende Gewalt ist ganz und gar beim Par-
lament, das aus einem „Senat“ von 300 und
einer „Prärogation“ von 1050 Mitgliedern be-
steht. Alle werden auf drei Jahre gewählt und
jährlich zu einem Drittel erneuert. Aber auch die
leitenden Beamten des Staats werden (nach sehr
verwickeltem Modus) gewählt. Schon zwei Jahr-
zehnte nach Harrington finden wir dann einen
neuen Staatsroman unter dem Titel Histoire
des Sevarambes (Par. 1677) von Vairasse.
Er ist in elegantem Französisch sehr unterhaltend,
ja zum Teil spannend geschrieben. Kapitän Si-
don, zuerst für die Juristerei bestimmt, findet das
Reisen unterhaltender. Er schifft sich auf dem
„Goldenen Drachen“ am 12. April 1655 nach
Ostindien ein, leidet aber Schiffbruch, wird in das
Land der Sevaramben verschlagen, von diesen mit
seinen Gefährten aufgenommen und lernt so das
schöne Land kennen. Dieses ist in Osmasien ein-
geteilt. Die Staatsform ist monarchisch-theokra-
tisch. Die Sonne ist Gott und Herrscher, der
König ist der Stellvertreter (sous-lieutenant)
des Sonnengottes und als solcher unabsetzbar. EsW
findet sich aber in dieser Verfassung auch ein de-
mokratischer Zug, und zwar insofern, als alle Be-
amten gewählt werden. Die Vorsteher der Os-
masien bilden den gesetzgebenden Körper, den
Großen Rat; aus ihm gehtl der Kleine Rat hervor.
Es existiert kein Privateigentum. Die Strafurteile
werden von einer Art Geschworenengericht gefällt.
Die Todesstrafe ist als inhuman und unnütz ver-
worfen. Es tritt die Gefängnisstrase in den
Vordergrund. Die verschiedenen Geschlechter wer-
den, wenn die Jünglinge das 19., die Mädchen
Staatsromane.
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das 16. Jahr erreicht haben, zusammengeführt,
und es finden unter Aussicht Bälle und andere
Vergnügungen statt. Hier müssen sich die jungen
Leute entscheiden; sie müssen heiraten, und viermal
im Jahr finden Hochzeitsfeste statt. Die Ehe ist
im allgemeinen monogamisch; die höheren Be-
amten können mehrere Frauen haben. Jeder kann
zudem so viele Sklavinnen halten, wie er Frauen
hat. Das Heer umfaßt Männer und Weiber. Alle
sind vom 14. bis 49. Jahr wehrpflichtig und
werden schon vom 7. Jahr an im Waffendienst
unterrichtet. Jeder Truppenkörper besteht aus drei
Abteilungen, den ledigen Männern, den ledigen
Mädchen und den Verheirateten, denn die Frau
kämpft an der Seite des Mannes. Sidon ist voll
des Lobes über dieses herrliche Volk der Seva-
ramben und über die hohe allgemeine Wohlfahrt,
deren sich diese erfreuen. Dennoch aber sehnt er
sich nach seiner Heimat und kehrt schließlich dort-
hin zurück. — Fast gleichzeitig mit Vairasses Buch
erschien ein anderer französischer Staatsroman:
Les aventures de Jacques Sadour dans la dé-
couverte des terres australes (Paris 1676)
von Foigny.
Eine andere Art von Staatsromanen aus dem
17. Jahrh. sind jene, welche in der Weise
Xenophons das Ideal eines Monarchen zeichnen.
Aus dieser Kategorie ist vor allem zu nennen der
Télémaque (2 Bde, Paris 1717 u. ö.; deutsch
1878 u. 1891; auch in Reclams Universal-
bibliothel) Fenelons. Das zehnte (zwölfte)
Buch dieses Werks enthält nämlich eine regel-
rechte Utopia, indem uns das Königreich Saleet
mit allen seinen Einrichtungen vorgeführt wird.
Hier erscheint die Begünstigung des Ackerbaus
und des redlichen Handels als das Ziel aller innern
Politik. Das ganze Land ist verteilt, und jedem
fällt nur so viel zu, als er gerade für sich und für
seine Familie notwendig hat; der Luxus ist be-
schränkt. Außerdem sind noch zu erwähnen Les
voyages de Cyrus (2 Bde, Paris u. London
1727 u. ö.) von Ramsay, sowie der Sethos
(3 Bde, Paris 1732) des Abbé de Terrasson.
In letzterem Roman werden ddie Schicksale und
Taten des ägyptischen Königssohns Sethos er-
zählt, und in diese Erzählung findet sich eine
romanhafte Schilderung der altägyptischen Ein-
richtungen, Sitten und Gebräuche verwebt. Der
llassische Fürstenspiegel der deutschen Literatur ist
ielands „Der goldene Spiegel“ (Leipzig 1772),
— Anspielungen auf Kaiser Hesehh II.
enthält.
In Deutschland haben wir den ersten selbstän-
digen und ernsten Versuch einer dichterisch-philo-
sophischen Ausmalung des Idealstaats in dem
anonymen Buch „Von dem Königreich Ophir“
(1699), dessen Verfasser unbekannt ist. Das
Utopium, das darin geschildert wird, ist das
in der Bibel erwähnte Königreich Ophir, aus
welchem die Schisfe Salomons Gold, Silber,
Elfenbein, Affen und Pfauen brachten. Der Ver-