Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

383 Tarifverträge. 384 
Eine genauere Analyse der Statistik zeigt deut- den Abmachungen zuwiderhandeln, damit die 
lich, daß die klein= und mittelbetrieblichen Ge-ganze Tarifgemeinschaft bedrohen, ihre Organi- 
werbegruppen mit Tarifen gesegnet sind, während sation aber in Verruf bringen, kurz, dem Tarif- 
die großindustriellen und zwergbetrieblichen bzw. vertrag seine Wirksamkeit nehmen können, muß 
hausindustriellen Gruppen recht leer ausgehen. die Arbeitervereinigung ebensogut auf dem Weg 
Man muß daher heute noch von einer oberen und der Privatklage und Haftbarmachung vor- 
einer unteren Grenze des Tarifgebiets reden, darf gehen können wie andere Zweckverbände ihren 
aber konstatieren, daß diese Grenzlinie sowohl nach Kontrahenten und ihren Mitgliedern gegenüber. 
oben wie nach unten weder scharf zu ziehen noch Ebenso natürlich umgekehrt die Organisationen 
unüberschreitbar ist. So brachte die neuere Zeit der Arbeitgeber. Außerdem stecken in unserer Ge- 
vereinzelt tarifliche Vereinbarungen für die Haus= setzgebung und Rechtsauslegung noch manche 
industrie, deren vollkommenste, die der Porte= Rudimente überlebter Sozialauffassungen, die den 
feuiller des Offenbacher Gebiets, an Form und Fortschritt des Korporativvertrags hemmen. So 
Inhalt dem Vorbild, dem Buchdruckertarif, viel= erschwert der § 153 der Gew.O. den Arbeiter- 
fach nahekommt. Die best entwickelten Tarif= organisationen mehr, als nötig wäre, das energische 
verträge haben auch heute noch die graphischen gewerkschaftliche Vorgehen, so stellt unser Recht 
Berufe, während die Baugewerbe und die ihnen die rein individuell, dazu noch meist betriebs- 
nahestehenden Branchen die zahlreichsten auf= absolutistisch, wenn auch scheinbar paritätisch auf- 
weisen. Vergegenwärtigt man sich aber, daß die gestellte Arbeitsordnung an Rechtsgültigkeit noch 
graphischen Tarife vielfach für das ganze Reichs= über den Tarifvertrag, der von den Korporationen 
gebiet Geltung haben, die baugewerblichen da= beider Parteien gemeinsam zum Gesamtwohl des 
gegen nur für ein lokales oder höchstens provin= Gewerbes abgeschlossen ist. Schwere Arbeit also 
zielles Teilgebiet, so muß man doch sagen, daß es müssen Juristen und Gesetzgeber noch leisten, bis 
die graphischen Gewerbe sind, die am meisten den die Rechtslage geklärt und die sozialen Verhältnisse 
Arbeitsvertrag der Neuzeit sich zu eigen gemacht der tatsächlichen Gegenwart ihre rechtliche Aner- 
haben. kennung gefunden haben. An theoretischen Schrif- 
3. Form und Inhalt des Tarifver= ten namhafter Rechtsgelehrter und Kundgebungen 
trags. Seiner Form nach ist der Tarifvertrag maßgebender Vereinigungen, wie des Deutschen 
ein höchst komplizierter Privatvertrag. Von Kor- Juristentags, der Verbandstage der Gewerbegerichte 
porationen miteinander oder von einer Korporation und ähnlichem, fehlt es bereits weniger als an ge- 
mit einer Einzelfirma abgeschlossen, enthält er nicht setzgeberischer Initiative und vor allem an vor- 
Leistungen und Gegenleistungen, die direkt von urteilsfreier Anwendung der Normen des Privat- 
Körperschaft zu Körperschaft zu entrichten sind, rechts auf die Tarifverträge. 
sondern solche, die den einzelnen Mitgliedern der Selbstverständlich setzt die rechtliche Behandlung 
Körperschaften zugute kommen sollen. Die Ge= des Tarifvertrags als eines Privatvertrags vor- 
werkschaft verschafft sich im Tarifvertrag die Ga= aus, daß er die wesentlichen Merkmale eines 
rantierung gewisser Normativvorschriften, nach solchen besitzt. In dieser Hinsicht hat er eine Ent- 
denen dann die Einzelarbeitsverträge ihrer Mit= wicklung durchlaufen, die noch lange nicht ihr 
glieder mit den einzelnen Firmen gestaltet werden Ende erreicht hat. Anfangs war die Reglung der 
sollen. Somit ist wesentlich: einmal das Rechts= Arbeitsbedingungen unter Einflußnahme der Ge- 
verhältnis der Unternehmer= zu den Arbeiter= werkschaften etwas, was man mehr oder weniger 
organisationen, dann das Rechtsverhältnis jeder mit Revolutionsideen verquickte, was also bewußt 
derselben zu ihren Mitgliedern. In beiden Punk. oder unbewußt im Gegensatz gegen die bestehende 
ten läßt die heutige Gesetzgebung und Rechts= Rechtsordnung gedacht war. Dann machte sich 
praxis die Organisationen im Stich zum Nachteil die Arbeiterbewegung in der bestehenden bürger- 
der geregelten Tarifbildung und deren stilter lichen Gesellschaft mehr heimisch, aber die Ab- 
Durchführung. Es fehlt an einem Recht der Be- machungen mit den Unternehmern wurden noch 
rufsverbände, das den Organisationen der Ar- mit einer gewissen Scheu getroffen, die wohl auch 
beiter so gut wie denen der Unternehmer die juri= die Antipathie gegen die vertragliche Bindung er- 
stische Persönlichkeit zubilligte und ihnen damit klärt, mit der der Tarifgedanke solange in Arbeiler- 
den Rechtstitel zum Abschluß bindender Privat- kreisen zu kämpfen hatte. Selbst als die Arbeiter 
verträge ausstellte. Ein solches Recht der Berufs= bereits die Bedeutung einer gewissen Stabilität 
verbände müßte auch das Verhältnis zwischen der ihrer Arbeitsverhältnisse und einer Gleichgestaltung 
Organisation und ihren Mitgliedern nach den der Löhne erkannt hatten, versäumten sie noch, ge- 
normalen Regeln des Privatrechts in Ordnung wollt oder aus Unkenntnis, dem Vereinbarten durch 
bringen, so nämlich, daß die Organisation auch Bestimmung einer Vertragsdauer und Unterschrift 
diejenigen, in deren Auftrag und für die sie klon- der vertragschließenden Parteien längeren Bestand 
trahiert hat, zwangsweise zur individuellen Ein- 1 zu verleihen. Heute kommen kaum mehr nicht- 
haltung der korporativ übernommenen Verpflich- unterschriebene Tarisverträge vor. Auch die Gültig- 
tungen heranziehen könnte. Sowohl gegen tarif- keilsdauer wird in den weitaus meisten Fällen 
brechende Firmen als auch gegen Mitglieder, die vorherbestimmt, wenn auch oft nur in der Form, 
 
	        
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