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wiesen. Nach und nach wurden die meisten bibli-
schen Stoffe und die Heiligenlegende zu solchen
Stücken („Mysterien“) herangezogen, ethische
Stoffe in allegorischer Form als sog. „Morali-
täten“ behandelt. Unter dem Zusammenwirken
von Klerus, Schulen, Bruderschaften und eignen
Vereinen entwickelte sich so in allen Ländern ein
reichhaltiges geistliches Volkstheater, das aber trotz
seiner komplizierten Bühnen und des reichsten Auf-
gebots materieller Mittel zu freier, wahrhaft kunst-
vollendeter Gestaltung nicht gelangte. Nur in den
spanischen Autos hat es viel später eine solche ge-
wonnen. Mancherlei Profanation, besonders
schwankartige Episoden und Zwischenspiele, nötigte
die Kirche öfter, das Heilige vor Verunehrung zu
schirmen. Aus diesen Zwischenspielen zweigten
sich dann der Schwank und das profane Volks-
schauspiel als selbständige Gattungen ab.
Eine wahrhaft künstlerische Auffassung des
Dramas wurde erst wieder durch die Renaissance
angeregt. Antike Stücke wurden wieder auf-
geführt, biblische Stoffe und Moralstücke nach
ihrem Vorbild bearbeitet. Die lateinische Schul-
bühne weckte das dramatische Interesse unter den
höheren Ständen und versah auch die Volksbühne
mit neuen Anregungen. An den Renaissancehöfen
Italiens erstand die italienische Komödie, die bald
in Spanien und Portugal, Frankreich und Eng-
land Nachahmung fand. In Spanien gelangte
das Theater unter den Königen Philipp II.,
Philipp III. und Philipp IV. zur höchsten Blüte,
in England unter Elisabeth. In Frankreich über-
nahm Kardinal Richelien selbst die Führung und
bereitete durch Gründung eines Hoftheaters die
glänzende Entwicklung unter Ludwig XIV. vor.
Die Hoftheater von Madrid (Buen Retiro) und
hauptsächlich von Paris wurden die Hauptmuster
der neueren Bühneneinrichtung, die sich seitdem
stets komplizierter und vollkommener ausgestaltet
hat. Mit den prunkvollen Theaterpalästen in
Paris wetteifern heute diejenigen von St Peters-
burg, London, Wien, Berlin und andern Haupt-
städten. Von dem antiken Theater hat das mo-
derne nur die amphitheatralische Anordnung der
Sitplätze beibehalten. Die Szene hat sich er-
weitert und vertieft und vermag durch ihre
Maschinerie, die in neuester Zeit mehr und mehr
zu den Höhen echter Kunst sich emporarbeitende
Dekorationsmalerei und die modernen Beleuch-
tungsmittel allein schon die fesselndsten Wirkungen
hervorzubringen, zu denen die Leistungen der
Dichter freilich nicht immer einen entsprechenden
Fortschritt aufzuweisen haben.
In der Entwicklung der deutschen Schauspiel-
kunst spielen die Theater von Leipzig, Mannheim,
Hamburg, Weimar, Wien und Berlin die her-
vorragendste Rolle. Vorübergehend erlangte auch
das von Meiningen bedeutsamen Einfluß. Im
ganzen besitzt Deutschland zurzeit etwa 350 größere
Theater (teils Hofbühnen teils Stadttheater teils
größere Privattheater).
Theater.
400
2. Ethische undästhetische Gesichts-
punkte. Als Ausdruck der dramatischen Poesie
im weitesten Umfang umfaßt das Theater so ver-
schiedene Aufgaben, hat sich bei den verschiedenen
Völkern so mannigfaltig entwickelt und wird von
verschiedenen ästhetischen Systemen so abweichend
ausgefaßt, daß sich die ästhetisch-ethischen Forde-
rungen, die an dasselbe zu stellen sind, nicht in
kurze Formeln drängen lassen. Drei Haupt-
aufgaben der Bühne treten indes, bald getrennt
bald vereint, in deren Geschichte und Theorie
deutlich hervor: spielende Unterhaltung, ästhetischer
Genuß, religiös-ethische Erhebung. Das erste
Element berührt sich mit den verschiedenen Arten
des Spiels und der Erholung, soweit in den-
selben mehr Abspannung als künstlerischer Genuß
gesucht wird; das dritte Element streift die Auf-
gaben der Religion. Zwischen beiden hält sich in
mannigfsacher Abstufung der ästhetische Genuß, der
einerseits den Geist abspannt und erquickt, ander-
seits ihn erhebt, veredelt und dem Einfluß des
Religiösen zugänglicher macht.
Zu überaus vollkommener Harmonie ver-
schmelzen die drei Elemente in der griechischen
Tragödie, deren Kunstregeln Aristoteles selbst aus
den Meisterwerken des Aschylos, Sophokles und
Euripides abstrahiert hat. Sie gewann nicht nur
den Charakter eines öffentlichen, nationalen Bil-
dungsmittels, sondern auch den eines öffentlichen
religiösen Aktes, aber auf Grundlage einer mytho-
logischen, heidnischen Religion. So hoch, rein
und erhaben die religiösen Anschauungen sind, zu
welchen sie sich mitunter erhebt, werden dieselben
doch mannigfach von heidnischen Irrtümern durch-
kreuzt und teilweise entwertet. Die Tragödie
selbst aber stellt nur einen Teil der griechischen
Bühne dar; in ihren übrigen Erscheinungen treten
die Schattenseiten des Heidentums viel stärker
zutage, wie auch im Lustspiel der Römer, das
sich, schon seiner Natur nach, nie zur religiös-silt-
lichen Höhe der griechischen Tragödie erheben
konnte.
Beim Eintritt des Christentums in die Welt-
geschichte war das Theater so entartet, daß sich
die Christen mit Abscheu davon abwandten. Dieser
Entartung ist es zuzuschreiben, daß der Stand der
Schauspieler bis tief ins Mittelalter hinein als
verrufen und ehrlos galt.
An sich war die Kirche dem Schauspiel durch-
aus nicht feindlich gesinnt. Der größte der mittel-
alterlichen Theologen, Thomas von Aquin, ver-
teidigt es ausdrücklich als erlaubte Erholung. so-
weit es weder durch Wort noch Tat die Sitten
verletzt, und tritt demgemäß auch für die Statt-
haftigkeit eines eigentlichen professionellen Schau-
spielerberufs ein, wofern nur diejenigen, welche
sich demselben widmen, anderweitig ihre Christen-
pflichten erfüllen (S. theol. 2, 2, 168 ad 3).
Als Zweck bezeichnet er aber weder ästhetischen
Genuß noch Bildung, sondern einfach Erholung
— solatium hominibus exhibendum. Zu