Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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wiesen. Nach und nach wurden die meisten bibli- 
schen Stoffe und die Heiligenlegende zu solchen 
Stücken („Mysterien“) herangezogen, ethische 
Stoffe in allegorischer Form als sog. „Morali- 
täten“ behandelt. Unter dem Zusammenwirken 
von Klerus, Schulen, Bruderschaften und eignen 
Vereinen entwickelte sich so in allen Ländern ein 
reichhaltiges geistliches Volkstheater, das aber trotz 
seiner komplizierten Bühnen und des reichsten Auf- 
gebots materieller Mittel zu freier, wahrhaft kunst- 
vollendeter Gestaltung nicht gelangte. Nur in den 
spanischen Autos hat es viel später eine solche ge- 
wonnen. Mancherlei Profanation, besonders 
schwankartige Episoden und Zwischenspiele, nötigte 
die Kirche öfter, das Heilige vor Verunehrung zu 
schirmen. Aus diesen Zwischenspielen zweigten 
sich dann der Schwank und das profane Volks- 
schauspiel als selbständige Gattungen ab. 
Eine wahrhaft künstlerische Auffassung des 
Dramas wurde erst wieder durch die Renaissance 
angeregt. Antike Stücke wurden wieder auf- 
geführt, biblische Stoffe und Moralstücke nach 
ihrem Vorbild bearbeitet. Die lateinische Schul- 
bühne weckte das dramatische Interesse unter den 
höheren Ständen und versah auch die Volksbühne 
mit neuen Anregungen. An den Renaissancehöfen 
Italiens erstand die italienische Komödie, die bald 
in Spanien und Portugal, Frankreich und Eng- 
land Nachahmung fand. In Spanien gelangte 
das Theater unter den Königen Philipp II., 
Philipp III. und Philipp IV. zur höchsten Blüte, 
in England unter Elisabeth. In Frankreich über- 
nahm Kardinal Richelien selbst die Führung und 
bereitete durch Gründung eines Hoftheaters die 
glänzende Entwicklung unter Ludwig XIV. vor. 
Die Hoftheater von Madrid (Buen Retiro) und 
hauptsächlich von Paris wurden die Hauptmuster 
der neueren Bühneneinrichtung, die sich seitdem 
stets komplizierter und vollkommener ausgestaltet 
hat. Mit den prunkvollen Theaterpalästen in 
Paris wetteifern heute diejenigen von St Peters- 
burg, London, Wien, Berlin und andern Haupt- 
städten. Von dem antiken Theater hat das mo- 
derne nur die amphitheatralische Anordnung der 
Sitplätze beibehalten. Die Szene hat sich er- 
weitert und vertieft und vermag durch ihre 
Maschinerie, die in neuester Zeit mehr und mehr 
zu den Höhen echter Kunst sich emporarbeitende 
Dekorationsmalerei und die modernen Beleuch- 
tungsmittel allein schon die fesselndsten Wirkungen 
hervorzubringen, zu denen die Leistungen der 
Dichter freilich nicht immer einen entsprechenden 
Fortschritt aufzuweisen haben. 
In der Entwicklung der deutschen Schauspiel- 
kunst spielen die Theater von Leipzig, Mannheim, 
Hamburg, Weimar, Wien und Berlin die her- 
vorragendste Rolle. Vorübergehend erlangte auch 
das von Meiningen bedeutsamen Einfluß. Im 
ganzen besitzt Deutschland zurzeit etwa 350 größere 
Theater (teils Hofbühnen teils Stadttheater teils 
größere Privattheater). 
  
Theater. 
  
400 
2. Ethische undästhetische Gesichts- 
punkte. Als Ausdruck der dramatischen Poesie 
im weitesten Umfang umfaßt das Theater so ver- 
schiedene Aufgaben, hat sich bei den verschiedenen 
Völkern so mannigfaltig entwickelt und wird von 
verschiedenen ästhetischen Systemen so abweichend 
ausgefaßt, daß sich die ästhetisch-ethischen Forde- 
rungen, die an dasselbe zu stellen sind, nicht in 
kurze Formeln drängen lassen. Drei Haupt- 
aufgaben der Bühne treten indes, bald getrennt 
bald vereint, in deren Geschichte und Theorie 
deutlich hervor: spielende Unterhaltung, ästhetischer 
Genuß, religiös-ethische Erhebung. Das erste 
Element berührt sich mit den verschiedenen Arten 
des Spiels und der Erholung, soweit in den- 
selben mehr Abspannung als künstlerischer Genuß 
gesucht wird; das dritte Element streift die Auf- 
gaben der Religion. Zwischen beiden hält sich in 
mannigfsacher Abstufung der ästhetische Genuß, der 
einerseits den Geist abspannt und erquickt, ander- 
seits ihn erhebt, veredelt und dem Einfluß des 
Religiösen zugänglicher macht. 
Zu überaus vollkommener Harmonie ver- 
schmelzen die drei Elemente in der griechischen 
Tragödie, deren Kunstregeln Aristoteles selbst aus 
den Meisterwerken des Aschylos, Sophokles und 
Euripides abstrahiert hat. Sie gewann nicht nur 
den Charakter eines öffentlichen, nationalen Bil- 
dungsmittels, sondern auch den eines öffentlichen 
religiösen Aktes, aber auf Grundlage einer mytho- 
logischen, heidnischen Religion. So hoch, rein 
und erhaben die religiösen Anschauungen sind, zu 
welchen sie sich mitunter erhebt, werden dieselben 
doch mannigfach von heidnischen Irrtümern durch- 
kreuzt und teilweise entwertet. Die Tragödie 
selbst aber stellt nur einen Teil der griechischen 
Bühne dar; in ihren übrigen Erscheinungen treten 
die Schattenseiten des Heidentums viel stärker 
zutage, wie auch im Lustspiel der Römer, das 
sich, schon seiner Natur nach, nie zur religiös-silt- 
lichen Höhe der griechischen Tragödie erheben 
konnte. 
Beim Eintritt des Christentums in die Welt- 
geschichte war das Theater so entartet, daß sich 
die Christen mit Abscheu davon abwandten. Dieser 
Entartung ist es zuzuschreiben, daß der Stand der 
Schauspieler bis tief ins Mittelalter hinein als 
verrufen und ehrlos galt. 
An sich war die Kirche dem Schauspiel durch- 
aus nicht feindlich gesinnt. Der größte der mittel- 
alterlichen Theologen, Thomas von Aquin, ver- 
teidigt es ausdrücklich als erlaubte Erholung. so- 
weit es weder durch Wort noch Tat die Sitten 
verletzt, und tritt demgemäß auch für die Statt- 
haftigkeit eines eigentlichen professionellen Schau- 
spielerberufs ein, wofern nur diejenigen, welche 
sich demselben widmen, anderweitig ihre Christen- 
pflichten erfüllen (S. theol. 2, 2, 168 ad 3). 
Als Zweck bezeichnet er aber weder ästhetischen 
Genuß noch Bildung, sondern einfach Erholung 
— solatium hominibus exhibendum. Zu
	        
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