Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

405 Theokratie. 406 
die politische Stellungnahme der einzelnen Bürger. hinausgehende aktuelle Bedeutung hat die syste- 
Vll. Freiheit der Kirche von jeder staatlichen Zu- matisch-kritische Beleuchtung dessen, was man 
ständigkeit auch in rein irdisch-weltlichen Daseins- 
beziehungen. VIII. Theokratische Kompetenzerklä- 
rungen grundsätzlicher Art. IX. Konfliktsmöglich- 
keiten. X. Geschichtliche Erklärung und Gesamt- 
würdigung des theokratischen Systems.]) 
I. Begriff und Arten. Die Bezeichnung 
Theokratie — das Wort ist geschaffen von Fla- 
vius Josephus, Contra Apion. 2, 16 (ogl. Well- 
hausen, Prolegomena zur Geschichte Israels 
1[/1895] 417) — wird auf die verschiedenartigsten 
staatlichen und religiös-kirchlichen Gebilde ange- 
wandt. Es ist ebensowohl die Rede von orien- 
talischen Theokratien überhaupt wie von der 
jüdischen Theokratie als einer eigenartigen, heils- 
geschichtlichen Erscheinung im besondern. Man 
spricht von byzantinischer und karolingischer Theo- 
kratie, von der päpstlichen Theokratie, von der 
Genfer Schrifttheokratie u. a. Aber so verschieden- 
artigen Kulturstufen und religiösen Systemen auch 
die als Theokratien bezeichneten staatlichen und 
religiös-kirchlichen Gebilde angehören, immer 
handelt es sich um eine eigenartige Vermischung 
von staatlicher und geistlicher Gewalt, um eine 
eigentümliche Zweckverbindung des staatlichen und 
des religiösen Gedankens. 
Zwei Haupttypen lassen sich bei aller Ver- 
schiedenheit feststellen. Die erste Form läßt sich 
charakterisieren als eine gewisse im Namen Gottes 
beanspruchte und ausgeübte Beherrschung des 
Staats durch eine religiöse Körperschaft. Die 
zweite Form zeigt sich da, wo „der Staat im Be- 
wußtsein eines göttlichen Auftrags die religiöse 
päpstliche Theokratie oder Hierokratie nennt, und 
zwar aus folgenden Gründen. Gerade in unsern 
Tagen ist man geschäftig an der Arbeit, den 
Nachweis zu führen, daß die katholische Kirche 
theokratische oder hierokratische Machtansprüche 
als zu ihrem Wesen gehörig betrachte, daß sie 
also jederzeit dieselben, falls es ihr möglich und 
nützlich wäre, erneuern würde (sog. „latentes“ 
Kirchenrecht) und daß dementsprechend die katho- 
lische Kirche vom modernen Staat, wenn nicht 
nach Kräften zurückgedrängt, so doch mit größtem 
Mißtrauen behandelt werden müsse. Dazu komme, 
daß der katholische Staatsangehörige auf dem 
Boden und nach den Grundsätzen seiner Kirche 
keinerlei Recht habe, an den hierokratischen Macht- 
ansprüchen, die der Papst als ihm zustehend er- 
kläre, Kritik zu üben oder ihnen gar entgegen- 
zutreten. Nicht einmal die historische Untersuchung 
stehe dem Katholiken frei, ob nicht doch irgendwo 
und irgendwann ein Papst seine Befugnisse über- 
schritten habe. 
Für die literarische Vertretung dieser kirchen- 
politischen Strömungen kommen nicht bloß eigent- 
liche Agitationsschriften in Betracht wie die des 
Exjesuiten Grafen Paul Hoensbroech, der in immer 
wiederholten Ausführungen gegen die katholische 
Kirche mobil zu machen sucht (Der Ultramontanis- 
mus. Sein Wesen und seine Bekämpfung (1897). 
— Der Syllabus, seine Autorität und Tragweite 
(Lo. J.I. — Moderner Staat und römische Kirche. 
Ein kirchenpolitisches Programm auf geschichtlicher 
Grundlage [19061. — Rom und das Zentrum 
  
Zwecksetzung vollständig und unmittelbar zu der ([19070). Noch andere sehr verbreitete Schriften 
seinigen macht“ (Hundeshagen, Die theokratische mit praktisch-politischer Tendenz sind in ihrem 
Staatsgestaltung und ihr Verhältnis zum Wesen schädlichen Einfluß wohl zu beachten (L. K. Goetz, 
der Kirche, in Zeitschr. für Kirchenrecht III /1863) Der Ultramontanismus als Weltanschauung auf 
236; ferner Geffcken, Staat und Kirche in ihrem Grund des Syllabus guellenmäßig dargestellt 
Verhältnis geschichtlich entwickelt (1875) 3; eine (1905|). Dazu kommt, daß selbst in sehr ernsten 
andere Zweiteilung und teilweise überhaupt andere wissenschaftlichen Werken immer wieder auf das 
Auffassung der Theokratie bei Jellinek, Allgemeine „latente“ Kirchenrecht hingewiesen wird, das die 
Staatslehre I21905. 283, 651). Die erste Form katholische Kirche nicht desavouiere, weil sie bei 
pflegt man wohl auch hierarchische Herrschaft oder Gelegenheit darauf zurückgreifen wolle. So über- 
Hierokratie, die zweite Theokratie im engeren geht auch der Bonner Kirchenrechtslehrer U. Stutz 
Sinn zu nennen. in seinem Kirchenrecht (in Holtzendorff-Kohler, 
Die im Lauf der Geschichte in die Erscheinung Enzyklopädie der Rechtswissenschaft II I.1904.) 
getretenen Theokratien beanspruchen in verschieden- " 912) bei aller Vornehmheit der Darstellung das 
ster Weise unser Interesse, sowohl in staatlicher „latente" Kirchenrecht nicht. Eingehender spricht 
wie in religiöser, in offenbarungsgeschichtlicher wie sich der Berliner Kirchenrechtslehrer Kahl in 
in kirchenpolitischer Hinsicht. Im Vordergrund seiner neuesten zusammenfassenden Darstellung des 
stehen für uns selbstverständlich theokratische Gestal-Kirchenrechts aus: „Kommt das System — ge- 
  
tungen, die auf dem Boden der Offenbarungsreli- 
gion, des Alten Bunds und des Christentums wirk- 
sam waren. Aber auch für diese Gestaltungen ist an 
sich unser Interesse ein wesentlich historisches; ins- 
besondereistfür die Erkenntnis der Heilsgeschichte wie 
der Kirchengeschichte die Würdigung der betreffen- 
den theokratischen Gestaltungen nicht zu entbehren. 
II. Die päpstliche Cheokratie in moderner 
Beleuchtung. Eine über das historische Interesse 
meint ist das, was wir Hierokratie nennen; Kahl 
spricht von „Kirchenstaatstum“ — für die Kirchen- 
politik der Gegenwart noch irgendwie in 
Betracht? Die Frage ist von größter praktischer 
Wichtigkeit, und sie ist zu bejahen. Der mittel- 
alterliche Anspruch der Kirchenherrschaft selbst ist 
geblieben. Allerdings nur fiktiv, nur als prin- 
zipielle Verwahrung gegenüber der veränderten 
Weltlage. Aber er ist noch heute als nachmittel-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.