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die politische Stellungnahme der einzelnen Bürger. hinausgehende aktuelle Bedeutung hat die syste-
Vll. Freiheit der Kirche von jeder staatlichen Zu- matisch-kritische Beleuchtung dessen, was man
ständigkeit auch in rein irdisch-weltlichen Daseins-
beziehungen. VIII. Theokratische Kompetenzerklä-
rungen grundsätzlicher Art. IX. Konfliktsmöglich-
keiten. X. Geschichtliche Erklärung und Gesamt-
würdigung des theokratischen Systems.])
I. Begriff und Arten. Die Bezeichnung
Theokratie — das Wort ist geschaffen von Fla-
vius Josephus, Contra Apion. 2, 16 (ogl. Well-
hausen, Prolegomena zur Geschichte Israels
1[/1895] 417) — wird auf die verschiedenartigsten
staatlichen und religiös-kirchlichen Gebilde ange-
wandt. Es ist ebensowohl die Rede von orien-
talischen Theokratien überhaupt wie von der
jüdischen Theokratie als einer eigenartigen, heils-
geschichtlichen Erscheinung im besondern. Man
spricht von byzantinischer und karolingischer Theo-
kratie, von der päpstlichen Theokratie, von der
Genfer Schrifttheokratie u. a. Aber so verschieden-
artigen Kulturstufen und religiösen Systemen auch
die als Theokratien bezeichneten staatlichen und
religiös-kirchlichen Gebilde angehören, immer
handelt es sich um eine eigenartige Vermischung
von staatlicher und geistlicher Gewalt, um eine
eigentümliche Zweckverbindung des staatlichen und
des religiösen Gedankens.
Zwei Haupttypen lassen sich bei aller Ver-
schiedenheit feststellen. Die erste Form läßt sich
charakterisieren als eine gewisse im Namen Gottes
beanspruchte und ausgeübte Beherrschung des
Staats durch eine religiöse Körperschaft. Die
zweite Form zeigt sich da, wo „der Staat im Be-
wußtsein eines göttlichen Auftrags die religiöse
päpstliche Theokratie oder Hierokratie nennt, und
zwar aus folgenden Gründen. Gerade in unsern
Tagen ist man geschäftig an der Arbeit, den
Nachweis zu führen, daß die katholische Kirche
theokratische oder hierokratische Machtansprüche
als zu ihrem Wesen gehörig betrachte, daß sie
also jederzeit dieselben, falls es ihr möglich und
nützlich wäre, erneuern würde (sog. „latentes“
Kirchenrecht) und daß dementsprechend die katho-
lische Kirche vom modernen Staat, wenn nicht
nach Kräften zurückgedrängt, so doch mit größtem
Mißtrauen behandelt werden müsse. Dazu komme,
daß der katholische Staatsangehörige auf dem
Boden und nach den Grundsätzen seiner Kirche
keinerlei Recht habe, an den hierokratischen Macht-
ansprüchen, die der Papst als ihm zustehend er-
kläre, Kritik zu üben oder ihnen gar entgegen-
zutreten. Nicht einmal die historische Untersuchung
stehe dem Katholiken frei, ob nicht doch irgendwo
und irgendwann ein Papst seine Befugnisse über-
schritten habe.
Für die literarische Vertretung dieser kirchen-
politischen Strömungen kommen nicht bloß eigent-
liche Agitationsschriften in Betracht wie die des
Exjesuiten Grafen Paul Hoensbroech, der in immer
wiederholten Ausführungen gegen die katholische
Kirche mobil zu machen sucht (Der Ultramontanis-
mus. Sein Wesen und seine Bekämpfung (1897).
— Der Syllabus, seine Autorität und Tragweite
(Lo. J.I. — Moderner Staat und römische Kirche.
Ein kirchenpolitisches Programm auf geschichtlicher
Grundlage [19061. — Rom und das Zentrum
Zwecksetzung vollständig und unmittelbar zu der ([19070). Noch andere sehr verbreitete Schriften
seinigen macht“ (Hundeshagen, Die theokratische mit praktisch-politischer Tendenz sind in ihrem
Staatsgestaltung und ihr Verhältnis zum Wesen schädlichen Einfluß wohl zu beachten (L. K. Goetz,
der Kirche, in Zeitschr. für Kirchenrecht III /1863) Der Ultramontanismus als Weltanschauung auf
236; ferner Geffcken, Staat und Kirche in ihrem Grund des Syllabus guellenmäßig dargestellt
Verhältnis geschichtlich entwickelt (1875) 3; eine (1905|). Dazu kommt, daß selbst in sehr ernsten
andere Zweiteilung und teilweise überhaupt andere wissenschaftlichen Werken immer wieder auf das
Auffassung der Theokratie bei Jellinek, Allgemeine „latente“ Kirchenrecht hingewiesen wird, das die
Staatslehre I21905. 283, 651). Die erste Form katholische Kirche nicht desavouiere, weil sie bei
pflegt man wohl auch hierarchische Herrschaft oder Gelegenheit darauf zurückgreifen wolle. So über-
Hierokratie, die zweite Theokratie im engeren geht auch der Bonner Kirchenrechtslehrer U. Stutz
Sinn zu nennen. in seinem Kirchenrecht (in Holtzendorff-Kohler,
Die im Lauf der Geschichte in die Erscheinung Enzyklopädie der Rechtswissenschaft II I.1904.)
getretenen Theokratien beanspruchen in verschieden- " 912) bei aller Vornehmheit der Darstellung das
ster Weise unser Interesse, sowohl in staatlicher „latente" Kirchenrecht nicht. Eingehender spricht
wie in religiöser, in offenbarungsgeschichtlicher wie sich der Berliner Kirchenrechtslehrer Kahl in
in kirchenpolitischer Hinsicht. Im Vordergrund seiner neuesten zusammenfassenden Darstellung des
stehen für uns selbstverständlich theokratische Gestal-Kirchenrechts aus: „Kommt das System — ge-
tungen, die auf dem Boden der Offenbarungsreli-
gion, des Alten Bunds und des Christentums wirk-
sam waren. Aber auch für diese Gestaltungen ist an
sich unser Interesse ein wesentlich historisches; ins-
besondereistfür die Erkenntnis der Heilsgeschichte wie
der Kirchengeschichte die Würdigung der betreffen-
den theokratischen Gestaltungen nicht zu entbehren.
II. Die päpstliche Cheokratie in moderner
Beleuchtung. Eine über das historische Interesse
meint ist das, was wir Hierokratie nennen; Kahl
spricht von „Kirchenstaatstum“ — für die Kirchen-
politik der Gegenwart noch irgendwie in
Betracht? Die Frage ist von größter praktischer
Wichtigkeit, und sie ist zu bejahen. Der mittel-
alterliche Anspruch der Kirchenherrschaft selbst ist
geblieben. Allerdings nur fiktiv, nur als prin-
zipielle Verwahrung gegenüber der veränderten
Weltlage. Aber er ist noch heute als nachmittel-