Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

409 
III. Inhalt und Almfang der päpftlichen 
Theokratie. Die hierokratische Auffassung des 
Verhältnisses von Kirche und Staat läßt sich ganz 
allgemein dahin charakterisieren, daß diese Auf- 
fassung der Kirche eine gewisse Herrschaft über den 
Staat und über dessen Lebensäußerungen zuschreibt. 
Einen Herrschaftsanspruch der Kirche über den 
Staat hat man im Lauf der Geschichte in ver- 
schiedener Weise zu bestimmen, zu formulieren und 
gleichzeitig zu begründen versucht; es handelt sich 
um die Theorien von der potestas directa, in- 
directa, directiva, die der Kirche gegenüber dem 
Staat und seinen Lebensäußerungen zustehe. Die 
potestas directa ist die extremste Theorie; nach 
ihr hat der Papst, weil er von Christus un- 
beschränkte Binde= und Lösegewalt erhalten hat, 
die Herrschaft sowohl über das Geistliche wie über 
das Zeitliche, so zwar, daß er nur die geistliche 
Gewalt persönlich ausüben darf, die weltliche Ge- 
walt aber weltlichen Fürsten anvertrauen muß; 
diese weltlichen Fürsten bleiben und sind eigent- 
lich Diener und Beauftragte der Kirche, ihr ver- 
antwortlich und im Fall des Mißbrauchs von ihr 
absetzbar. Die potestas indirecta gesteht zu, 
daß der kirchlichen Gewalt direkt nur die Leitung 
der Gläubigen in den religiösen Angelegenheiten 
zustehe, in zeitlichen Dingen habe sie eine Macht 
nur indirekt, insofern das Zeitliche dem über- 
natürlichen Ziel entgegenstehe oder zu dessen Er- 
reichung notwendig sei. Insbesondere gehören 
dieser Theorie folgende Ausführungen an: Direkt 
kann der Papst keinen Fürsten absetzen, wohl aber, 
wenn dieser durch Apostasie, Verfolgung der 
Kirche, Unterdrückung der Untertanen usw. sich 
versündigt, schließlich erklären, daß das Volk nicht 
mehr zum Gehorsam verpflichtet ist. Nach dem 
dritten System, der potestas directiva, hat der 
Papst keine juridische und zwingende Gewalt 
gegenüber der weltlichen Autorität, wohl aber das 
Recht und die Pflicht, durch lehramtliche Ent- 
scheidungen, durch Mahnungen, Warnungen, 
Ratschläge und Gebote die Gewissen der Völker 
und Fürsten zu lenken und aufzuklären; insbeson- 
dere hat er im Fall einer Pflichtenkollision die 
Entscheidung abzugeben, was vor Gott und dem 
Gewissen zu geschehen hat. 
So sicher es ist, daß die zweite Formel eine 
Milderung der extremsten ersten Theorie darstellen 
will, so ist doch auf der andern Seite nicht zu 
übersehen, daß in praxi und in conereto die 
beiden Auffassungen in vielen Fällen keinen sehr 
großen Unterschied bedeuten. So sagt Scherer 
(Handbuch des Kirchenrechts 1 (1885] 53) mit 
Recht, daß für die Praxis es gleichgültig ist, 
„ob der Papst das Band zwischen Fürst und 
Untertanen unmittelbar löst oder mittelbar für 
gelöst erklärt“. (Zur Geschichte der Theorie von 
der indirekten Gewalt vgl. Scherer a. a. O. 53 
A. 13; Döllinger-Reusch, Die Selbstbiographie 
des Kardinals Bellarmin /1887)]; dazu Buschbell 
im Historischen Jahrbuch (1902 52 ff.) 
Theokratie. 
  
410 
Die Formel endlich der potestas directiva 
weist auf unzweifelhafte Aufgaben und Pflichten 
des kirchlichen Hirtenamts hin und will zugleich 
bewußt die hierokratische Auffassung ablehnen; 
als knappe schulmäßige Bezeichnung einer be- 
stimmten Auffassung läßt sie sich sehr gut ver- 
wenden. Keineswegs aber darf diese Formel nach 
Art eines obersten Prinzips aufgefaßt werden, 
aus dem in logischer Folgerung klar die Rechte 
und Pflichten der Kirche gegenüber dem Staat 
im einzelnen festgestellt und begründet werden 
könnten. Dazu hat doch auch diese Formel 
noch zu große Dehnbarkeit, und es könnten als 
potestas directiva auch noch Anforderungen be- 
handelt werden, die der Intention dieser Formel 
fern liegen. 
Eine klarere und schärfere Vorstellung von dem, 
was man Hierokratie oder päpstliche Theokratie 
nennt, erhält man, wenn man mit Absehen von 
den eben erwähnten allgemeinen Formeln der 
potestas directa. indirecta, directiva einfach 
in medias res geht und historisch feststellt, welche 
einzelnen Herrschaftsforderungen in weltlichen 
Dingen sind von der Kirche oder von kirchlichen 
Theoretikern mit Berufung auf die apostolische 
Vollgewalt erhoben worden. Es kommen in Be- 
tracht sowohl Herrschaftsansprüche über den 
Staat und staatliches Leben wie Herrschafts= und 
Unabhängigkeitsansprüche der Kirche im Staat. 
Bei der ersteren Art kann man wieder unterschei- 
den zwischen Herrschaftsansprüchen direkt über den 
Staat und sein Leben und indirekt Herrschafts- 
ansprüche über die politische Stellungnahme der 
einzelnen Bürger. 
Unter den tatsächlich im Lauf der Geschichte 
erhobenen hierokratischen Forderungen sind vor 
allem folgende zu nennen: Das Recht des Papstes, 
unter Umständen Fürsten abzusetzen und die Unter- 
tanen vom Eid der Treue zu entbinden, sowie die 
Befugnis des Papstes, unter Umständen weltliche 
Gesetze zu kassieren sowie die politische Stellung- 
nahme der Bürger zu bestimmen. Ferner gehören 
hierher alle Forderungen, welche mit Berufung auf 
das Wesen der Kirche, kirchliche Personen und 
kirchliches Eigentum auch in irdisch-weltlichen 
Daseinsbeziehungen der staatlichen Zuständigkeit 
schlechtweg entziehen (hierokratische Auffassung des 
privilegium fori und der Immunität). Endlich 
sind einzelne grundsätzliche Verlautbarungen zu 
nennen, in denen eine theokratische Uberordnung 
der Kirche über den Staat von päpfstlicher Seite 
beansprucht erscheint. 
IV. Das päpflliche Fürstenahsehungsrecht. 
Es läßt sich nicht leugnen, daß tatsächlich einzelne 
Pähste, gleichgültig ob mit oder ohne Erfolg, das 
Recht beanspruchten und ausübten, Fürsten ab- 
zusetzen. Gewiß handelte es sich niemals um den 
Anspruch, nach Willkür und Belieben dieses Recht 
auszuüben, es galt immer als an gewisse Voraus- 
setzungen und Notwendigkeiten gebunden. Doch 
darauf kommt es für unsere Untersuchung weniger
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.