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III. Inhalt und Almfang der päpftlichen
Theokratie. Die hierokratische Auffassung des
Verhältnisses von Kirche und Staat läßt sich ganz
allgemein dahin charakterisieren, daß diese Auf-
fassung der Kirche eine gewisse Herrschaft über den
Staat und über dessen Lebensäußerungen zuschreibt.
Einen Herrschaftsanspruch der Kirche über den
Staat hat man im Lauf der Geschichte in ver-
schiedener Weise zu bestimmen, zu formulieren und
gleichzeitig zu begründen versucht; es handelt sich
um die Theorien von der potestas directa, in-
directa, directiva, die der Kirche gegenüber dem
Staat und seinen Lebensäußerungen zustehe. Die
potestas directa ist die extremste Theorie; nach
ihr hat der Papst, weil er von Christus un-
beschränkte Binde= und Lösegewalt erhalten hat,
die Herrschaft sowohl über das Geistliche wie über
das Zeitliche, so zwar, daß er nur die geistliche
Gewalt persönlich ausüben darf, die weltliche Ge-
walt aber weltlichen Fürsten anvertrauen muß;
diese weltlichen Fürsten bleiben und sind eigent-
lich Diener und Beauftragte der Kirche, ihr ver-
antwortlich und im Fall des Mißbrauchs von ihr
absetzbar. Die potestas indirecta gesteht zu,
daß der kirchlichen Gewalt direkt nur die Leitung
der Gläubigen in den religiösen Angelegenheiten
zustehe, in zeitlichen Dingen habe sie eine Macht
nur indirekt, insofern das Zeitliche dem über-
natürlichen Ziel entgegenstehe oder zu dessen Er-
reichung notwendig sei. Insbesondere gehören
dieser Theorie folgende Ausführungen an: Direkt
kann der Papst keinen Fürsten absetzen, wohl aber,
wenn dieser durch Apostasie, Verfolgung der
Kirche, Unterdrückung der Untertanen usw. sich
versündigt, schließlich erklären, daß das Volk nicht
mehr zum Gehorsam verpflichtet ist. Nach dem
dritten System, der potestas directiva, hat der
Papst keine juridische und zwingende Gewalt
gegenüber der weltlichen Autorität, wohl aber das
Recht und die Pflicht, durch lehramtliche Ent-
scheidungen, durch Mahnungen, Warnungen,
Ratschläge und Gebote die Gewissen der Völker
und Fürsten zu lenken und aufzuklären; insbeson-
dere hat er im Fall einer Pflichtenkollision die
Entscheidung abzugeben, was vor Gott und dem
Gewissen zu geschehen hat.
So sicher es ist, daß die zweite Formel eine
Milderung der extremsten ersten Theorie darstellen
will, so ist doch auf der andern Seite nicht zu
übersehen, daß in praxi und in conereto die
beiden Auffassungen in vielen Fällen keinen sehr
großen Unterschied bedeuten. So sagt Scherer
(Handbuch des Kirchenrechts 1 (1885] 53) mit
Recht, daß für die Praxis es gleichgültig ist,
„ob der Papst das Band zwischen Fürst und
Untertanen unmittelbar löst oder mittelbar für
gelöst erklärt“. (Zur Geschichte der Theorie von
der indirekten Gewalt vgl. Scherer a. a. O. 53
A. 13; Döllinger-Reusch, Die Selbstbiographie
des Kardinals Bellarmin /1887)]; dazu Buschbell
im Historischen Jahrbuch (1902 52 ff.)
Theokratie.
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Die Formel endlich der potestas directiva
weist auf unzweifelhafte Aufgaben und Pflichten
des kirchlichen Hirtenamts hin und will zugleich
bewußt die hierokratische Auffassung ablehnen;
als knappe schulmäßige Bezeichnung einer be-
stimmten Auffassung läßt sie sich sehr gut ver-
wenden. Keineswegs aber darf diese Formel nach
Art eines obersten Prinzips aufgefaßt werden,
aus dem in logischer Folgerung klar die Rechte
und Pflichten der Kirche gegenüber dem Staat
im einzelnen festgestellt und begründet werden
könnten. Dazu hat doch auch diese Formel
noch zu große Dehnbarkeit, und es könnten als
potestas directiva auch noch Anforderungen be-
handelt werden, die der Intention dieser Formel
fern liegen.
Eine klarere und schärfere Vorstellung von dem,
was man Hierokratie oder päpstliche Theokratie
nennt, erhält man, wenn man mit Absehen von
den eben erwähnten allgemeinen Formeln der
potestas directa. indirecta, directiva einfach
in medias res geht und historisch feststellt, welche
einzelnen Herrschaftsforderungen in weltlichen
Dingen sind von der Kirche oder von kirchlichen
Theoretikern mit Berufung auf die apostolische
Vollgewalt erhoben worden. Es kommen in Be-
tracht sowohl Herrschaftsansprüche über den
Staat und staatliches Leben wie Herrschafts= und
Unabhängigkeitsansprüche der Kirche im Staat.
Bei der ersteren Art kann man wieder unterschei-
den zwischen Herrschaftsansprüchen direkt über den
Staat und sein Leben und indirekt Herrschafts-
ansprüche über die politische Stellungnahme der
einzelnen Bürger.
Unter den tatsächlich im Lauf der Geschichte
erhobenen hierokratischen Forderungen sind vor
allem folgende zu nennen: Das Recht des Papstes,
unter Umständen Fürsten abzusetzen und die Unter-
tanen vom Eid der Treue zu entbinden, sowie die
Befugnis des Papstes, unter Umständen weltliche
Gesetze zu kassieren sowie die politische Stellung-
nahme der Bürger zu bestimmen. Ferner gehören
hierher alle Forderungen, welche mit Berufung auf
das Wesen der Kirche, kirchliche Personen und
kirchliches Eigentum auch in irdisch-weltlichen
Daseinsbeziehungen der staatlichen Zuständigkeit
schlechtweg entziehen (hierokratische Auffassung des
privilegium fori und der Immunität). Endlich
sind einzelne grundsätzliche Verlautbarungen zu
nennen, in denen eine theokratische Uberordnung
der Kirche über den Staat von päpfstlicher Seite
beansprucht erscheint.
IV. Das päpflliche Fürstenahsehungsrecht.
Es läßt sich nicht leugnen, daß tatsächlich einzelne
Pähste, gleichgültig ob mit oder ohne Erfolg, das
Recht beanspruchten und ausübten, Fürsten ab-
zusetzen. Gewiß handelte es sich niemals um den
Anspruch, nach Willkür und Belieben dieses Recht
auszuüben, es galt immer als an gewisse Voraus-
setzungen und Notwendigkeiten gebunden. Doch
darauf kommt es für unsere Untersuchung weniger