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verfassung eines Landes ist in Betracht zu ziehen.
Eine Steuerfreiheit des Klerus, die grundsätzlich
seiner souveränen Entscheidung entzogen wäre,
erkennt der moderne Staat nicht an.
VIII. Theokratische Kompektenzerklärun-
gen grundsätzlicher Art. Auch bei der Unter-
suchung genereller Kompetenzerklärungen der Päpste
kommt es darauf an, erstens ob diese Kompetenz-
ansprüche wirklich hierokratischer Natur sind und
zweitens ob diese Kompetenzansprüche, falls sie
hierokratischer Natur sind, die Katholiken tatsäch-
lich verpflichten. Hier seien diejenigen amtlichen
Kundgebungen genannt, die besonders oft zitiert
werden und die man teils für eine indirekte teils
eine direkte Verpflichtung der Katholiken auf das
hierokratische System gegnerischerseits anzuführen
pflegt.
Eine indirekte Verpflichtung will man nämlich
in der kirchlichen Verurteilung bestimmter ein-
schlägiger Sätze erblicken. Es kommen in Betracht
der erste Artikel der Deklaration des gallikanischen
Klerus vom 22. März 1682 und Satz 23 des
Syllabus von 1864.
Der erste gallikanische Artikel sagt
im entscheidenden Teil: Es sind also die Könige
und Fürsten im Zeitlichen keiner kirchlichen Ge-
walt durch die Anordnung Gottes unterworfen;
sie können weder direkt noch indirekt durch die
Schlüsselgewalt der Kirche abgesetzt oder ihre Unter-
tanen vom Gehorsam entbunden oder vom Eid der
Treue losgesprochen werden. (Vollständiger Text
der Artikel der Deklaration bei Mirbt a. o. O.
Nr 372 verurteilt wurde die Deklaration durch die
Bulle Inter multiplices“ vom 4. Aug. 1690;
Bull. Rom. Ed. Taurin. 20, 67 ff; Denzinger-
Bannwart, Enchiridion 1% n. 1326. „Vorgänge“
hierzu aus dem kanonischen Recht bei Eichmann,
Der Recursus ab abusu 35 ff.) Man mag dar-
über streiten, ob der erste gallikanische Artikel ver-
worfen worden ist bloß wegen der mißfälligen
Tendenz der Versammlung, die ihn aussprach, und
die in diesem Artikel „die unleugbarsten Tatsachen
als einen Vorwurf gegen die Kirche hinstellt“
(Phillips, Kirchenrecht III ([1848) 359), oder
ob es sich um eine hierokratische Erklärung des
Papstes Alexander VIII. handelt; jedenfalls steht
fest, daß man durch diese Verurteilung als Katholik
nicht gehindert ist, den im ersten Artikel ausgespro-
chenen Grundsatz für „an sich richtig“ zu erklären
(Lämmer. Institutionen des Kirchenrechts (11892)
* A. 1; ebenso Walter, Kirchenrecht 15 § 114,
. 9).
Der verurteilte Satz 23 des Syllabus
von 1864 besagt in dem einschlägigen Teil:
Die römischen Päpste und die allgemeinen Kon-
zilien haben die Grenzen ihrer Gewalt über-
schritten und Rechte der Fürsten sich angemaßt.
Durch die kirchliche Verurteilung dieses Satzes ist
kein Katholik gezwungen, vorgekommene „Kom-
petenzüberschreitungen und Usurpationen“ über-
haupt zu leugnen (Hergenröther, Kathol. Kirche
Theokratie.
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und christlicher Staat /18727 814). Das zu
leugnen und zu bestreiten war überhaupt nicht
der Sinn dieser Verurteilung. „Gewiß wäre es
töricht, aus der Zensurierung der These 23 die
Annahme abzuleiten, Pius IX. habe feststellen
wollen, daß kein Papst irgend jemals bei seiner
Amtsführung einen Mißgriff oder Fehler gemacht
habe; die Absicht, jede einzelne Regierungs= oder
Privathandlung der Päpste als solche zu ver-
teidigen oder zu entschuldigen, hat sicherlich ganz
fern gelegen“ (Martens, Die Beziehungen usw.
zwischen Kirche und Staat 386). Die Tendenz
der Verurteilung bewegt sich vielmehr in derselben
Richtung, in der sich der verurteilte Satz bewegt.
Dieser aber enthält ein pauschales Gesamturteil
über die Tätigkeit der Päpste, der in seiner ver-
letzenden Verallgemeinerung mit Recht zurück-
gewiesen wurde (Hergenröther a. a. O. 814). Die
verurteilte These erhebt den versteckten Vorwurf,
als ob insbesondere die Herrschaft des hierokra-
tischen Systems lediglich aufgebaut gewesen wäre
auf subjektiven Anmaßungen der Pöpste, die diese
gar noch mala fide aus purer Herrschsucht erhoben
hätte. Mit Recht wurde dagegen das hierokra-
tische System durch die Verurteilung der These in
Schutz genommen (val. unsere Ausführungen über
die historische Würdigung des hierokratischen Sy-
stems unten Sp. 422 ff). Keineswegs aber soll
das hierokratische System hierdurch vor jeder
Kritik bewahrt werden; insbesondere soll damit in
keiner Weise das hierokratische System als etwas
der katholischen Kirche Wesentliches und mit der
Hierarchie kraft göttlichen Auftrags Verbundenes
hingestellt werden. Auch durch diese Syllabus-
entscheidung ist kein Katholik auf das hierokratische
System verpflichtet.
Eine direkte Verpflichtung der Katholiken auf
das hierokratische System will man in der Bulle
„Unam Sanctam“ des Papstes Bonifa-
lius VIII. vom 18. Nov. 1302 erblicken (Text:
c. 1 Extrav. comm. 1, 8; Specimina palaeo-
graphica regestorum Rom. pont. v. Denifle,
Nom 1886, Tab. 46; Mirbt a. a. O. Nr 244).
Es läßt sich nicht bestreiten, daß in der Bulle
Ausführungen sich finden, die schlechtweg als
hierokratisch zu bezeichnen sind. Doch nicht dar-
auf kommt es hier für uns an, sondern darauf,
ob in der Bulle eine lehramtliche dogmatische Ver-
pflichtung auf diese hierokratischen Anschauungen
ausgesprochen ist. Der heftige Streit, der hier-
über schon geführt worden ist, dreht sich haupt-
sächlich um die zwei Fragen, welches der Sinn
des Schlußsatzes der Bulle ist und ob der dogma-
lische Charakter auf den Schlußsatz zu beschränken
oder auf die ganze Bulle auszudehnen ist (vgl.
Funk. Kirchengesch. Abhandlungen und Unter-
suchungen 1 (1897] 483/489; über die psycho-
logischen und literarischen Voraussetzungen der
Bulle vgl. Sauer, Aus den Tagen Bonifaz' VIIk.
in Theol. Revue 1905, Nr 18, Sp. 582; bei
Besprechung von Finke, Aus den Tagen Boni-