Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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faz' VIII. [1902). Für den Nachweis, daß die 
Bulle dogmatisch auf das hierokratische System 
nicht verpflichte, genügt hier folgendes: „Wäre in 
der Bulle die direkte oder auch nur die indirekte 
Gewalt der Kirche über den Staat zum förm- 
lichen Glaubenssatz erhoben, so wäre es offenbare 
Ketzerei, die theologische und kirchenrechtliche Be- 
rechtigung beider Theorien in Zweifel zu ziehen."“ 
Nun ist es aber „notorische Tatsache, daß auch 
nach dem Erlaß der Bulle unter den katholischen 
Theologen und Kanonisten die entgegengesetzten 
Theorien über das Verhältnis beider Gewalten 
im Schwang waren und sind“ und daß „trotz des 
Syllabus und des Vatikanischen Konzils“ die 
Freiheit der Diskussion unter den Katholiken sei- 
tens des kirchlichen Lehramts unangetastet blieb 
(so die treffenden Ausführungen von Pohle, Art. 
Unam Sanctam, Kirchenlexikon: XII 237). 
Ganz richtig konstatiert deshalb — wenn wir von 
der Beschränkung auf die Zeit vor dem Syllabus 
von 1864 absehen — Hinschius: „Die katho- 
lische Kirche hat jedenfalls bis zum Erlaß des 
Syllabus im Jahr 1864 niemals das Verhältnis 
zwischen Staat und Kirche zum Gegenstand einer 
direkten dogmatischen Festsetzung gemacht“ (Hin- 
schius, Allgemeine Darstellung der Verhältnisse 
von Staat und Kirche, in Marquardsens Hand- 
buch des öffentlichen Rechts I, 1 (18831, 216). 
IX. Konfliktsmöglichkeifen. Von den ka- 
tholischen Kanonisten wird grundsätzlich der Satz 
anerkannt, daß die kirchliche Gesetzgebungs= und 
Befehlsgewalt nur auf kirchlichem Gebiet gelte. 
„Ein Gesetz, das unzweifelhaft diese Grenze 
überschritte und rein weltliche Angelegenheiten 
in seinen Bereich zöge, wäre in sich nichtig, und 
berechtigte bzw. verpflichtete zur Verweigerung des 
Gehorsams, zum passiven Widerstand“ (Heiner, 
Katholisches Kirchenrecht 1 19/20). 
So einfach in der Theorie nun die Sache liegt, 
so schwierig kann sie in der Praxis sich gestalten; 
denn wir hätten ja dann den Fall, daß die kirch- 
liche Autorität etwas als zu ihrer Zuständigkeit 
gehörig befehlen und verlangen würde, die Gläu- 
bigen aber diese Zuständigkeit bestritten. Damit 
wäre ein überaus ernster Konflikt gegeben und 
mehr wie einmal war im Lauf der Geschichte für 
die in die Verhältnisse Hineingezogenen der Aus- 
gang ein tragischer. Aber diese Opfer der Ver- 
gangenheit sind nicht umsonst gebracht wor- 
den (vgl. Grauert, Historisches Jahrbuch IX 
[18881 151), sie sind nach beiden Seiten Weg- 
weiser, Warnung und Belehrung. In offener und 
ruhiger Weise erörtert Lämmer die Möglichkeit 
eines Konflikts: „Der katholische Untertan ist 
unter einen zweifachen Gehorsam gestellt, unter 
den der Kirche und den des Staats. Von beiden 
Seiten empfängt er Gebote, beiden soll er nach- 
kommen. Wie verhalten sich diese Gebote zuein- 
ander und wie zu seinem Gehorsam? Der Staat 
hat es mit weltlichen Dingen zu tun, die Kirche 
mit den geistlichen. Ein Konflikt sollte nie statt- 
Theokratie. 
  
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finden und der katholische Untertan nie im Zweifel 
sein können. Erfahrungsmäßig treten aber dennoch 
Konflikte häufig genug ein; wie dann? Sie ent- 
stehen a) entweder daraus, daß eine der beiden 
Mächte geradezu in das Gebiet der andern über- 
greift, d. h. daß die Kirche über weltliche Dinge 
disponiert oder der Staat über geistliche. — Im 
Mittelalter ist das erstere leider nicht selten ge- 
schehen, oft freilich im Drang historischer Not- 
wendigkeiten, bei dem Zusammenstoß zweier strei- 
tenden weltlichen Mächte oder bei gänzlicher Ab- 
wesenheit jeder solchen Autorität. Zuweilen aber 
auch durch wirkliche, aus irrigen Theorien ab- 
geleitete Ubergriffe. Heutigentags wie in der by- 
zantinischen Zeit ist das Umgekehrte das Häufigere; 
der Staat maßt sich Befugnisse an, die nur der 
Kirche gebühren. In diesen Fällen ist die prin- 
zipielle Lösung indessen fast immer leicht, wenn 
auch nicht immer die Ausführuug. Man gehorcht 
der Macht, welche Gott für dieses Gebiet eingesetzt 
hat, und trauert über die Verirrung der andern. 
— b) Oder die Konflikte entstehen daraus, daß 
das Gebiet, auf dem sie walten, ein streitiges ist. 
Hier treten ganz besondere Schwierigkeiten ent- 
gegen, zu deren Aufklärung folgendes beitragen 
kann: Berührt die Materie des Streits einen 
Glaubensartikel, fließt sie aus einem Punkt der 
Lehre, so hat der Katholik keine Wahl, er soll Gott 
mehr gehorchen als den Menschen. — Erwächst 
der Streit aus einem jener Disziplinarpunkte, die, 
wie der Zölibat, der Laienkelch, der kirchliche Ge- 
brauch der lateinischen Sprache, der gesamten 
Kirchendisziplin, und zwar ihr allein angehören, 
so kann sein Entschluß wiederum nicht zweifelhaft 
sein. Die weltlichen Bestimmungen sind dann 
eine Anmaßung und dürfen nicht befolgt werden. 
— Aber das Hauptbedenken tritt da ein, wo das 
Gebiet des Streits wirklich ein gemischtes ist, in- 
dem die kirchliche Bestimmung eine neue ist, und 
entweder die rein politische Seite oder die Rechte 
der andern Konfessionen mit berührt. In solchen 
Fällen kann der einzelne nie hoffen, den unter 
Gottes Zulassung erwachsenen traurigen Konflikt 
selbst zu lösen. Seine Aufgabe ist dann, aber nur 
soweit er zum eignen Entschluß herangezogen wird, 
sich auf einen passiven Widerstand zurückzuziehen. 
Er wird nicht gegen die kirchliche Bestimmung 
handeln, aber dem Gebot des Staats eine nur 
streng auf seine eigne Person beschränkte ehr- 
erbietige Ablehnung entgegenstellen“ (Lämmer, In- 
stitutionen des katholischen Kirchenrechts 121892) 
416 A. 3). 
X. Geschichtliche Erklärung und Gesamt-- 
würdigung. Wir haben bisher immer wieder dar- 
auf hingewiesen, daß hierokratische Machtansprüche 
über Staat und staatliches Leben nicht im Wesen 
der Kirche begründet liegen, daß sie nicht Forde- 
rungen sind, welche die Kirche kraft göttlichen 
Auftrags erheben kann. Es ergibt sich nun die 
Frage: sind etwa die Päpste, welche hierokratische 
Forderungen aufgestellt haben, der bewußten Kom- 
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