Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sophischen Rechtslehre niedergelegt. Was die 
Staatstheorie betrifft, so gebührt Thomas und 
seinem Lehrer Albertus das Verdienst, daß sie zu- 
erst unter den christlichen Scholastikern Kommen- 
tare zur Politik des Aristoteles in Angriff nahmen. 
Jedoch umfassen die echten Teile des unter dem 
Namen des Aquinaten auf uns gekommenen Kom- 
mentars nur die zwei ersten Bücher und die acht 
ersten Kapitel des dritten Buchs der Aristotelischen 
Politik (vgl. v. Hertling, Rheinisches Museum 
[1884] 446 ff). Hier bemüht sich Thomas haupt- 
sächlich, die Gedanken des Aristoteles getreu wieder- 
zugeben. Einen genaueren Einblick in seine eigne 
politische Denkweise würde die Schrift De regi- 
mine principum ermöglichen. Allein durch eine 
Reihe von Handschriften wird ihre Echtheit auf 
das erste Buch und nicht ganz ein Kapitel des 
folgenden Buchs eingeschränkt, und auch an diesem 
Rest scheint, nach innern Kriterien zu urteilen, 
die spätere Redaktion so wenig echte Bestandteile 
übrig gelassen (oder vielleicht auch vorgefunden) 
zu haben, daß man Bedenken tragen muß, auch 
nur diesen Rest als Beleg Thomistischer Doktrin 
heranzuziehen. Die dadurch entstehende Lücke wird 
indessen, um von weniger belangreichen Quellen 
der Thomistischen Rechts= und Staatslehre abzu- 
sehen, teilweise ausgefüllt durch einzelne Partien 
des Kommentars zu den Sentenzen des Petrus 
Lombardus. 
Für die philosophische Rechtslehre des 
hl. Thomas bildet die mit der christlichen unzer- 
trennlich verbundene theistisch-teleologische Welt- 
ansicht die Grundlage. Auf den persönlichen Ur- 
heber der Welt führt er alles Recht und Gesetz 
in der Welt zurück. So ergibt sich ihm aus dem 
Gedanken der gottgeschaffenen Welt zunächst eine 
dreifache Art von Gesetzen, die lex aeterna dei, 
die lex naturalis und die leges humange. 
Stellt sich nämlich die Welt dar als das Werk 
eines intelligenten Urhebers, und entspricht in ihr 
Wesen, Ordnung und das auf bestimmte Ziele 
gerichtete Wirken der Dinge einem im Geist des 
göttlichen Meisters konzipierten Plan, so besitzt 
der von Ewigkeit her entworfene Plan der Welt 
zugleich den Charakter eines ewigen Welt- 
gesetzes (S. theol. 1, d. 22, a. 1; 2, q. 91, 
a. 1). Unter wiederholter Verweisung auf den 
hl. Augustinus, welcher der auf die antike Philo- 
sophie zurückgehenden Lehre vom ewigen Welt- 
gesetz ihren Abschluß und die volle Klarheit gegeben 
hatte, fügt Thomas dieselbe seinem eignen Lehr- 
system ein. Das ewige Gesetz bedeutet für ihn die 
alles Geschöpfliche, die vernunftlosen wie die ver- 
nünftigen Wesen umfassende höchste Norm, welcher 
jene unbewußt in der Eigenart ihres Wirkens 
folgen, die sich bei den vernünftigen Wesen in der 
Erkenntnis ankündigt, von welcher alle übrigen 
Gesetze, sofern sie auf Geltung Anspruch erheben 
können, herfließen (a. a. O. 1, 2, q. 93, a. 1/3). 
Indem sich nun dieses Gesetz allem, was der gött- 
lichen Vorsehung unterliegt, einprägt und indem 
Thomas von Aquin. 
  
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es sich in allem geltend macht als jenes Prinzip, 
das ein jegliches zu dem ihm eignen Ziel bewegt 
und lenkt, erscheint es auf der Seite der Geschöpfe 
zugleich als das Gesetz ihrer Natur sowie als 
Naturgesetz schlechthin (lex naturalis). Da 
aber ein Gesetz im eigentlichen Sinn sich nur an 
vernünftige Wesen wendet, so ist nach Thomas 
das natürliche Gesetz oder das Naturgesetz (im 
Unterschied von dem jetzigen Gebrauch des Worts) 
„nichts anderes als die Teilnahme der vernünf- 
tigen Kreatur am ewigen Gesetz“ (a. a. O. q. 91, 
a. 2 c. und q. 96, a. 2 ad 3). Diese For- 
mulierung gewinnt bei Thomas ein Gedanke, 
der weder der alten Philosophie noch der alten 
Rechtslehre unbekannt war, der namentlich einen 
grundlegenden Bestandteil der stoischen Moral ge- 
bildet hatte, nämlich daß die Natur selbst bestimmte 
Normen für ein sittliches Leben darbiete, der so- 
dann eine autoritative Bestätigung erhalten hatte 
durch die berühmte Stelle des Römerbriefs 2, 14, 
welche besagt, daß die Heiden, welche ein Gesetz 
nicht haben und dennoch tun, was gesetzmäßig ist, 
sich selbst Gesetz seien. Und diese Stelle bzw. Wala- 
fried Strabos glossa ordinaria, welche hierbei 
auf den Bestand einer lex naturalis neben der 
lex scripta aufmerksam macht, ist es, worauf 
sich der Scholastiker des 13. Jahrh. bei seiner 
Darlegung des Naturgesetzes zunächst bezieht 
(a. u. O. a. 2). Im Naturgesetz nun weist der 
hl. Thomas eine doppelte Art von Vorschriften 
auf, primäre und sekundäre, oder unableitbare, 
allerallgemeinste, durch sich selbst einleuchtende, 
für alle unabänderlich gültige, praktische Prin- 
zipien, die unaustilgbar der Vernunft des Menschen 
eingegraben sind, und abgeleitete, aus jenen in 
nächster Konsequenz sich ergebende Sätze. Nur 
jenen ersteren Vorschriften wohne eine ausnahms- 
lose Geltung inne; bei den letzteren könne unter 
Umständen eine Ausnahme von der Regel Platz 
greifen. So erleide die Forderung, daß anver- 
trautes Gut zurückzugeben sei, eine Ausnahme in 
dem Fall, wenn es zur Bekämpfung des Vater- 
lands verlangt werde. Ebenso seien in Bezug auf 
die abgeleiteten Sätze des natürlichen Sittengesetzes 
Leidenschaften, verkehrte Gewohnheiten usw. im- 
stande, eine Trübung der Erkenntnis und des 
ganzen sittlichen Bewußtseins herbeizuführen. Bei 
den Germanen z. B. habe nach dem Zeugnis Cä- 
sars (De bello gall. 6, 23) der Raub nicht als 
Frevel gegolten, ebenso wie bei andern Heiden- 
völkern nach dem Apostel (Röm. 1, 26 ff) unnatür- 
liche Laster (S. theol. 1, 2, d. 94, a. 2/,6). Die 
erste und allgemeinste Forderung der lex naturalis 
lautet, daß das Gute zu tun, das Böse zu meiden 
sei. Genauerhin aber bezieht sie sich entsprechend 
einer dreifachen Art natürlicher, den Menschen 
bestimmender Triebe auf ein Dreifaches, nämlich 
auf die Selbsterhaltung und das, was derselben 
dient, sodann auf das, „was die Natur alle Sinnes- 
wesen lehrt“ (guae natura omnia animalia do- 
cuit), wie die Verbindung von Mann und Weib,
	        
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