Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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die Erziehung der Kinder usw., endlich auf die 
dem Menschem als solchem eigentümlichen Güter, 
wie die Erkenntnis der Wahrheit, das Leben in 
der Gesellschaft usw. (a. a. O. q. 94, a. 2). Von 
dem Naturgesetz aus zu konkreteren Bestimmungen 
fortschreitend begründet die Vernunft das mensch- 
liche Gesetz (a. a. O. q. 91, a. 3 corp.), bessen 
einzelne Vorschristen indes in Rücksicht auf die 
Vielheit der Personen, ihre mannigfaltigen Auf- 
gaben und die wechselnden Zeitverhältnisse, wofür 
sie zu gelten haben, im Unterschied von den aus 
ihnen gefolgerten richterlichen Sentenzen, stets 
den Charakter der Allgemeinheit beibehalten sollen 
(a. a. O. q. 96, a. 1). Das positive Gesetz ist 
notwendig, um den Frevler durch Furcht und 
Zwang an die sittliche Ordnung zu binden und 
dadurch Bestand, Frieden und Tugend der mensch- 
lichen Gesellschaft zu wahren. Seine Aufgabe 
kann demnach nicht sein, alle Vergehen zu unter- 
drücken, wohl aber die schwereren und vorzüglich 
diejenigen, welche die Gesellschaft schädigen und 
ihren geordneten Bestand untergraben (a. a. O. 
d. 95, a. 1c und ad 1; q. 96, a. 2). Der Zu- 
sammenhang der positiven Gesetze mit dem Natur- 
gesetz ist doppelter Art. Entweder ergeben sie sich 
als Folgerungen aus den allgemeinsten Normen 
des Naturgesetzes, wie das Gebot, nicht zu töten, 
aus dem allgemeinen, niemand ein ÜUbel zuzu- 
sügen; oder sie stellen sich dar als Determination 
und spezielle Anwendung einer allgemeinen Vor- 
schrift auf bestimmte Fälle, so wenn die allge- 
meine Forderung, daß der Ubertreter des Gesetzes 
bestraft werde, dahin präzisiert wird, daß er dieser 
oder jener Strafe verfalle. Solche Bestimmungen 
gelten kraft menschlicher Anordnung (sola lege 
humana vigorem habent), jene Folgerungen 
kraft des Naturgesetzes. Von jeglicher mensch- 
lichen Satzung aber gilt ganz allgemein, wenn sie 
irgendwie mit dem Naturgesetz nicht übereinstimmt: 
lam non erit lex, sed legis corruptio (a. a. O. 
d. 95, a. 2; 2, 2, d. 57, a. 2 ad 2). 
In diesem Zusammenhang, wo Thomas wie 
in einem Zug die gesamte sittliche Ordnung 
vorführt, angefangen von dem Plan der Vor- 
sehung, worin sie ihren Grund hat, bis zu den 
letzten Konsequenzen, welche die Vernunft aus 
ihr ableitet, finden wir eine Scheidung zwischen 
dem ethischen Gebiet im engeren Sinn und dem 
eigentlichen Rechtsgebiet nicht vollzogen. Um so 
mehr tritt dagegen die organische Verbindung 
zwischen dem göltklichen, dem natürlichen und dem 
menschlichen Gesetz hervor. Insbesondere fungiert 
die lex naturalis ohne bestimmten Unterschied 
bald als das natürliche Sittengesetz, bald als das 
Naturrecht. Uberhaupt scheint der Heilige eine 
Definition des Rechts im Sinn eines Inbegriffs 
natürlicher und positiver Normen für das soziale 
Leben der Menschen nicht formuliert zu haben. 
In der secunda secundae der theologischen 
Summe, wo er ausführlicher, und zwar in engem 
Anschluß an Aristoteles, vom Recht handelt, 
Thomas von Agquin. 
  
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faßt er es zunächst nicht als Norm für besondere, 
durch die Menschheit zu realisierende Zwecke, 
sondern als das Normierte, nämlich als das Ge- 
rechte oder das, was der Gerechtigkeit entspricht. 
Die Gerechtigkeit nun ordne den Menschen in 
dem, was auf den andern Bezug habe (in bis, 
duae sunt ad alterum). Sie erscheint als aus- 
gleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa) 
in der Beziehung des einzelnen zum einzelnen, 
als legale Gerechtigkeit in der Hinordnung des 
einzelnen auf die Gesamtheit, als austeilende 
Gerechtigkeit (iustitia distributiva) in der Ver- 
teilung öffentlicher Güter an die einzelnen. Daß 
wir in diesen Beziehungen nicht an eine bloße 
Gesinnung denken dürfen, sondern an äußere 
Handlungen, ergibt sich daraus, daß das Gerechte, 
wie Thomas sagte, auch unabhängig von der Ge- 
sinnung bestehe (etiam non considerato, qua- 
liter ab agente fiat; a. a. O. 2, 2, q. 57, a. 1). 
Vom Gesetz im Sinn des Rechtsgesetzes hebt er 
daher ausdrücklich hervor, daß ihm seiner Natur 
nach ein Doppeltes zukomme: einmal, daß es eine 
Norm menschlicher Handlungen sei, dann, daß es 
zwingende Kraft besitze (a. a. O. dq. 96, a. 5 corp.; 
d. 95, a. 1corp.). In der theologischen Summe 
(2, 2, d. 57, a. 2.3) sowohl wie namentlich auch 
in seinem Kommentar zur nikomachischen Ethik 
(I. 5, 1. 12) geht Thomas auf die von Aristoteles 
und den römischen Juristen sowie den von den 
letzteren abhängigen Autoren gemachten Eintei- 
lungen des Rechts ein und sucht sie in ihrer Be- 
deutung und ihrem gegenseitigen Verhältnis zu 
würdigen. Mit Aristoteles unterscheidet er ein 
natürliches und ein durch das Gesetz bestimmtes 
Recht. Jenes bestehe unabhängig von menschlicher 
Meinung, leite sich her aus der menschlichen Natur 
selbst und besitze, weil diese überall dieselbe sei, 
überall die gleiche Geltung. Das natürliche Recht 
im Sinn des Aristoteles umfasse sowohl das ius 
naturale als auch das ius gentium der römischen 
Juristen. Unter dem ersteren versteht er nämlich 
jenes beschränktere Gebiet von Rechtsverhältnissen, 
worauf die römischen Juristen seit Ulpian den 
Begriff des natürlichen Rechts eingeschränkt 
hatten, welches mit der animalischen Natur als 
solcher gegeben ist, wie z. B. die Verbindung von 
Mann und Weib. Unter dem ius gentium ver- 
steht er dasjenige Recht, welches auf die spezifisch 
menschliche Natur sich beziehend Folgerungen des 
Naturgesetzes in sich schließt, ohne deren Beobach- 
tung ein Zusammenleben der Menschen unmöglich 
wäre, welches um seines allgemein einleuchtenden 
Charakters willen bei allen Völkern anerkannt ist. 
Es ist im Unterschied vom römischen Zivilrecht 
oder dem Recht für die eigentlichen römischen 
Bürger das ursprüngliche römische Peregrinen- 
recht. Dieser Eingliederung des jus gentium in 
das 3%½% 82 des Aristoteles scheint zu 
widersprechen, daß Thomas im Traktat über das 
Gesetz in gleicher Weise als menschliche oder posi- 
tive Gesetze bezeichnete sowohl diejenigen, welche
	        
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