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Was die Staatstheorie des hl. Thomas
anlangt, so bildet für sie der Aristotelische Satz,
daß der Mensch von Natur aus auf die staatliche
Gemeinschaft hingeordnet sei, einen der Kardinal-
punkte. Dieser natürlichen Bestimmung entspricht
im Menschen ein natürlicher Trieb. Da nun aber
ein Zusammenleben vieler nicht bestehen könnte
ohne Regierung, so ist ein Oberhaupt notwendig,
welches das Gemeinwohl im Auge hat. Denn
viele würden aus sich eine Zersplitterung der In-
teressen herbeiführen, während sie durch einen auf
ein Ziel hingelenkt werden. Dem hl. Thomas
steht dies so fest, daß er eine politische Ordnung
mit einer Obrigkeit an der Spitze auch für den
paradiesischen Zustand voraussetzt (a. a. O. 1,
d. 96, a. 4; 1, 2, q. 94, a. 2 corp.).
Die beste Regierungsform sieht Thomas im
Königtum, wie die schlechteste in der Tyrannis.
Die Monarchie, welche ihm als Ideal vorschwebt,
schließt aber eine Verbindung der drei von Ari-
stoteles als gut bezeichneten Regierungsformen,
nämlich des Königtums, der Aristokratie und
Politie, in sich. Sie stellt sich dar als eine Art
konstitutionelle Wahlmonarchie mit dem aus dem
Volk und von dem Volk nach Maßgabe seiner
Tüchtigkeit gewählten König an der Spitze,
welchem sich ein Kreis von nach dem gleichen Ge-
sichtspunkt kreierten Aristokraten, deren Befugnisse
Thomas nicht näher bezeichnet, anschließt. Eine
solche Staatsverfassung gewährt auch der Gesamt-
heit des Volks dadurch, daß sie ihm aktives und
passives Wahlrecht einräumt, eine gewisse Teil-
nahme an der Regierung. Von ihr verspricht er
sich daher am meisten Garantie für den Frieden
eines Volks; für sie erwartet er das Interesse und
den Schutz der Gesamtheit (a. a. O. 1, 2, q. 105,
1
a. 1).
Es ist der Versuch gemacht worden, aus den
wenigen auf das Staatswesen bezüglichen Auße-
rungen des hl. Thomas seine bestimmte Ansicht
über die nächsten und unmittelbaren Ursachen für
die Bildung des Staats und den Besitz der Staats-
gewalt festzustellen; namentlich wollte man bei
ihm bereits die von späteren Scholastikern ver-
teidigte Lehre der „Vertrags= und Übertragungs-
theorie“ finden. Allein dazu scheinen die aus-
reichenden Gründe zu fehlen (vgl. Cathrein, Mo-
ralphilosophie II11 416).
Thomas von Agquin.
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„einem in der sittlichen Weltordnung begründeten
Zweck“; die Gewalt, sollte sie auch zunächst vom
Volk auf einzelne übertragen werden, hat ihre
letzte Quelle in Gott. An sein ewiges Gesetz ist
und bleibt der Mensch gebunden. Bei Rousseau
erscheint dagegen das souveräne Volk als völlig
unabhängiger und freier Schöpfer von Staat,
Gewalt und Recht. Und wie von den staats-
theoretischen Prinzipien, so gelingt es auch nicht,
von irgend welchen Konsequenzen aus eine Brücke
zu schlagen von Thomas bis zu Nousseau hin.
Seine Anschauungen über Obrigkeit und Unter-
tanenpflicht gestatten ihm nicht, ein „Recht der
Revolution" zu proklamieren, wie ihm z. B. Bau-
mann und Ritschl bei unkritischer Benutzung seiner
Schriften imputieren (vl. v. Hertling a#: a. O. 29).
Mit Hinweis auf Nöm. 13 bezeichnet er den Ge-
horsam gegen die von Gott stammende Obrigkeit
als Gewissenspflicht, die nur dann nicht vorhan-
den ist, wenn von einer rechtmäßigen Herrschaft
gar nicht die Rede sein kann, oder wenn die recht-
mäßige Obrigkeit befiehlt, was dem göttlichen
Gesetz zuwiderläuft, oder wenn sie zwar keine
Sünde befiehlt, aber verlangt, was nicht in ihrer
Kompetenz liegt. Indes auch in dem zuletzt ge-
nannten Fall kann der Gehorsam geradezu zur
Pflicht werden, wenn durch das Gegenteil das
Gemeinwohl gefährdet wäre. Diese Pflicht leitet
sich selbstverständlich „alsdann nicht aus der
autoritativen Stellung der Obrigkeit, sondern aus
dem obersten und bleibenden Zweck, der Aufrecht-
erhaltung der staatlichen Ordnung“, her (S. theol.
, 2, d. 94, a. 4). Wer seinen Blick über die
Sonderinteressen hin so unverrückbar auf das all-
gemeine Wohl und die höchsten Zwecke der staat-
lichen Gesellschaft gerichtet hält, kann selbstver-
ständlich eine Empörung des Volks gegen die
Obrigkeit als Angriff auf die Einigkeit und den
Frieden eines Gemeinwesens nur zum schweren
Verbrechen stempeln (a. a. O. 2, 2, q. 42, a. 1. 2).
Als aufrührerisch erscheint es Thomas aber auch,
wenn ein Tyrann zur Sicherung seiner Herrschaft
Zwietracht und Aufstände (seditiones) nährt.
Wer durch Gewalt die Herrschaft an sich reißt,
wird in Wahrheit nicht zum Herrscher. Eine der-
artige Herrschaft kann deshalb zurückgewiesen wer-
den (Comm. in 2 Sent. d. 44, q. 1, a. 2;
S. theol. 2, 2, d. 42, a. 2 ad 3).
Über die Wirtschaftslehre finden sich beim
—
Was soll aber dazu gesagt werden, daß man
bei Thomas von Aquin die Keime zu der späteren hl. Thomas nur gelegentliche Außerungen, zu denen
Theorie der Volkssouveränität entdeckt haben will, ihn seine ethischen und politischen Erörterungen
daß man behauptet, der Revolutionsphilosoph veranlaßten, wie auch seine Beteiligung am Men-
Rousseau gehöre einer Reihe von Vertretern der dikantenstreit. Darin besteht nach ihm wirtschaftlich
Staats= und Rechtslehre an, „an deren Anfang der Unterschied von Mensch und Tier, daß der
wir Gratian und Thomas von Aquin finden“ Mensch arbeiten muß, um sein Leben zu fristen.
(Alb. Ritschl, Drei akademische Reden 62)! Nur Eine ausreichende Deckung seines Bedarfs er-
bei dem Hinwegsehen über diametrale Gegensätze möglicht ihm aber nur die Arbeit vieler, so daß
können sich solche Kombinationen ergeben. Bei das Prinzip der Arbeitsteilung sich als natürlich
Thomas ist der Mensch von Natur aus auf den und notwendig erweist und die Berufsarbeit jedes
Staat hingeordnet; mit Notwendigkeit vereinigen einzelnen sich als dessen gottgewolltes Amt ergibt.
sich die einzelnen zu staatlicher Gemeinschaft als Hierdurch ist der sittliche Wert jeglicher Arbeit im