Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Unterschied von der antiken, insbesondere von der 
Aristotelischen Auffassung klar gelennzeichnet. Auch 
darin weicht Thomas von Aristoteles ab, daß er 
die geistige Arbeit ebenfalls als eine sittlich zu- 
lässige Erwerbsquelle darstellt (S. theol. 2, 2, 
d. 100, a. 3 ad 3). Die gewöhnliche Erwerbs- 
arbeit beurteilt Thomas nicht so fast vom wirt- 
schaftlichen als vom ethischen Gesichtspunkt aus. 
Es kann sich ihr niemand entziehen, für den sie 
die ausschließliche Bedingung des Lebensunter- 
halts bildet. Ihr Ziel darf jedoch nicht sein Er- 
werb um des Erwerbs willen, sondern die Be- 
schaffung des standesgemäßen Auskommens. Für 
letzteres will Thomas eine genaue Grenze nicht 
angeben. Was den Handel betrifft, so läßt er 
ihm volles Recht widerfahren, soweit lediglich die 
Beschaffung der notwendigen Bedarfsgegenstände 
von seiten der Hausverwalter und Staatsmänner 
in Frage steht. Dagegen findet er den Berufs- 
handel mit einer Makel behaftet und tadelnswert, 
da er der Gewinnsucht fröne, die über jede Grenze 
hinaus ins Ungemessene gehe. So urteilt er zu- 
nächst mit Aristoteles. Er bricht aber sofort selbst 
diesem schroffen Urteil die Spitze ab, indem er 
eine Reihe von Möglichkeiten sittlicher Beziehungen 
des Handelsgewinnes aufzählt (Unterhalt der Fa- 
milie, Almosen, Beschaffung der notwendigen 
Lebensbedürfnisse des Gemeinwesens). Zugleich 
aber hat er eine andere Basis, von der aus für ihn 
im Unterschied zu Aristoteles der Handel den Cha- 
rakter des sittlichen Werts erhält, die in ihm zu- 
tage tretende Arbeit (lucrum = stipendium 
laboris, a. a. O. d. 77, a. 4). Es erübrigt 
noch zu bemerken, daß Thomas, den wirklichen 
Verhältnissen seiner Zeit Rechnung tragend, die 
mittelallerliche Stadt mit ihrer zünftigen Gliede- 
rung als den einheitlichen Wirtschaftsorganismus 
betrachtet, und daß von dieser Denkweise aus auch 
seine Erklärung der Aristotelischen Politik ein be- 
stimmtes Gepräge erhält. 
Literatur. Die ältere Literatur zur Rechts- 
u. Staatstheorie des hl. Thomas ist aufgeführt u. 
kritisch gewürdigt bei Nik. Thoemes (Divi homae 
Aquin. opera et praecepta quid valennt ad res 
ecclesiasticas politicas sociales. Commentautio 
litteraria et critica 1 (Berl. 1875) 13/20); v. Hert- 
ling, Zur Beantwortung der Göttinger Jubiläums- 
rede; Offener Brief an H. Prof. D. A. Ritschl 
(1887); Antoniades, Die Staatslehre des T. v. A. 
(1890); Walter, Das Eigentum nach der Lehre des 
T. v. A. u. des Sozialismus (1895); Crahay, La 
politique de S. Thomas d’Aquin (Löwen 1896); 
Schaub, Die Eigentumslehre nach T. v. A. u. dem 
modernen Sozialismus (1898); Maurenbrecher, 
Thomas von Aquinos Stellung zum Wirtschafts- 
leben seiner Zeit (1898); Hilgenreiner, Die Er- 
werbsarbeit in den Werken des hl. T. v. A., in 
Katholik 1901, In. 11; Goedeckemeyer, Die Staats- 
lehre des T. v. A., in Preuß. Jahrb. CXIII 
(1903) Hft 3; Ott, T. v. A. u. das Mendikanten- 
tum (1908); Baumann, Die Staatslehre des hl. T. 
v. A. (1909); Kuhn, Die Probleme des Natur- 
rechts bei T. v. A. (1909); Zeiller, L'idée de l'état 
Thomasius. 
  
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dans S. Thomas d'’Aquin (Par. 1910); J. A. En- 
dres, T. v. A. (1910). [J. A. Endres.) 
Thomasius. Christian Thomasius gehörte 
zu den bahnbrechenden Naturen, die dazu angetan 
sind, nicht sowohl in alten Kreisen und Geleisen 
sich fortzubewegen, als vielmehr eine neue Ent- 
wicklung der Dinge vorzubereiten. Er hat den 
Bann mancher Zeitanschauungen gebrochen und 
namentlich dazu beigetragen, die im 17. Jahrh. 
so mächtig angewachsene Herrschaft der lutherischen 
Orthodoxie zu entkräften und der im 18. Jahrh. 
hervortretenden „Aufklärung“ vorzuarbeilen. Da 
ihm ein drangvoller, stürmischer, kampfeslustiger 
Geist als Angebinde der Natur verliehen war, so 
kann es nicht wundernehmen, daß sein Lebens- 
weg weniger mit Rosen als mit Steinen besät 
war. Gar manchen dieser Steine hat er aufge- 
hoben, um ihn gegen andere zu schleudern, und 
gar mancher ist auch von andern aufgehoben wor- 
den, der in verletzender Weise ihn selber traf. Er 
war geboren am 1. Jan. 1655 zu Leipzig als 
Sohn des Professors der Beredsamkeit, Jakob 
Thomasius, der auch Leibnizens Lehrer war. Nach- 
dem er von seiten seines Vaters eine streng luthe- 
rische Erziehung genossen hatte, studierte er an der 
Universität seiner Vaterstadt Philosophie und 
Rechtsgelehrsamkeit und unter Leitung seines Va- 
ters namentlich Naturrecht nach H. Grotius und 
Pufendorf, wurde aber aus einem Bekämpfer 
beider bald deren Anhänger im Gegensatz zu seinem 
Vater. 1679 promovierte er als Doktor der Rechte, 
machte eine Reise nach Holland und widmete sich 
alsdann in seiner Heimatstadt teils der juristischen 
Praxis teils dem juristischen Lehramt und begann 
namentlich über Naturrecht nach Hugo Grotius 
und Pufendorf Vorträge zu halten und von seiten 
der lutherischen Orthodorie eine Opposition gegen 
sich wachzurufen, wie sie schon seit einem Jahrzehnt 
gegen S. Pufendorf sich erhoben hatte. 
Vom Antritt seines Lehramts an bis zu seinem 
Lebensende stand Thomasius im Kampf mit der 
lutherisch-orthodoxen Grundanschauung, welche 
dem Menschen seit dem Sündenfall nur noch eine 
gebundene, völlig ohnmächtige Vernunft= und 
Willenskraft zugesteht, die nur vermittelst der 
Offenbarung und Gnade einigermaßen entbunden 
und betätigt werden kann; eine auf rein vernünf- 
tige Betrachtung der Dinge sich stützende Philo- 
sophie und insbesondere Naturrechtslehre ist danach 
ein Ding der Unmöglichkeit und überhebende An- 
maßung. Thomasius war kein Verächter des po- 
sitiven Offenbarungs= und Schriftworts; nur die 
Symbole als dessen maßgebende Auslegungs- 
normen und die auf deren Grund geforderte Ver- 
achtung der menschlichen Vernunft und eines ihr 
entstammenden Naturrechts waren die Hauptobjekte 
seines mit den Waffen feiner und unfeiner Salire 
geführten Kampfes, obwohl er seinerseits einer 
tiefer gehenden Spekulation und einer verständ- 
nisvollen Wertschätzung klassischer Bildung er- 
mangelte.
	        
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