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Unterschied von der antiken, insbesondere von der
Aristotelischen Auffassung klar gelennzeichnet. Auch
darin weicht Thomas von Aristoteles ab, daß er
die geistige Arbeit ebenfalls als eine sittlich zu-
lässige Erwerbsquelle darstellt (S. theol. 2, 2,
d. 100, a. 3 ad 3). Die gewöhnliche Erwerbs-
arbeit beurteilt Thomas nicht so fast vom wirt-
schaftlichen als vom ethischen Gesichtspunkt aus.
Es kann sich ihr niemand entziehen, für den sie
die ausschließliche Bedingung des Lebensunter-
halts bildet. Ihr Ziel darf jedoch nicht sein Er-
werb um des Erwerbs willen, sondern die Be-
schaffung des standesgemäßen Auskommens. Für
letzteres will Thomas eine genaue Grenze nicht
angeben. Was den Handel betrifft, so läßt er
ihm volles Recht widerfahren, soweit lediglich die
Beschaffung der notwendigen Bedarfsgegenstände
von seiten der Hausverwalter und Staatsmänner
in Frage steht. Dagegen findet er den Berufs-
handel mit einer Makel behaftet und tadelnswert,
da er der Gewinnsucht fröne, die über jede Grenze
hinaus ins Ungemessene gehe. So urteilt er zu-
nächst mit Aristoteles. Er bricht aber sofort selbst
diesem schroffen Urteil die Spitze ab, indem er
eine Reihe von Möglichkeiten sittlicher Beziehungen
des Handelsgewinnes aufzählt (Unterhalt der Fa-
milie, Almosen, Beschaffung der notwendigen
Lebensbedürfnisse des Gemeinwesens). Zugleich
aber hat er eine andere Basis, von der aus für ihn
im Unterschied zu Aristoteles der Handel den Cha-
rakter des sittlichen Werts erhält, die in ihm zu-
tage tretende Arbeit (lucrum = stipendium
laboris, a. a. O. d. 77, a. 4). Es erübrigt
noch zu bemerken, daß Thomas, den wirklichen
Verhältnissen seiner Zeit Rechnung tragend, die
mittelallerliche Stadt mit ihrer zünftigen Gliede-
rung als den einheitlichen Wirtschaftsorganismus
betrachtet, und daß von dieser Denkweise aus auch
seine Erklärung der Aristotelischen Politik ein be-
stimmtes Gepräge erhält.
Literatur. Die ältere Literatur zur Rechts-
u. Staatstheorie des hl. Thomas ist aufgeführt u.
kritisch gewürdigt bei Nik. Thoemes (Divi homae
Aquin. opera et praecepta quid valennt ad res
ecclesiasticas politicas sociales. Commentautio
litteraria et critica 1 (Berl. 1875) 13/20); v. Hert-
ling, Zur Beantwortung der Göttinger Jubiläums-
rede; Offener Brief an H. Prof. D. A. Ritschl
(1887); Antoniades, Die Staatslehre des T. v. A.
(1890); Walter, Das Eigentum nach der Lehre des
T. v. A. u. des Sozialismus (1895); Crahay, La
politique de S. Thomas d’Aquin (Löwen 1896);
Schaub, Die Eigentumslehre nach T. v. A. u. dem
modernen Sozialismus (1898); Maurenbrecher,
Thomas von Aquinos Stellung zum Wirtschafts-
leben seiner Zeit (1898); Hilgenreiner, Die Er-
werbsarbeit in den Werken des hl. T. v. A., in
Katholik 1901, In. 11; Goedeckemeyer, Die Staats-
lehre des T. v. A., in Preuß. Jahrb. CXIII
(1903) Hft 3; Ott, T. v. A. u. das Mendikanten-
tum (1908); Baumann, Die Staatslehre des hl. T.
v. A. (1909); Kuhn, Die Probleme des Natur-
rechts bei T. v. A. (1909); Zeiller, L'idée de l'état
Thomasius.
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dans S. Thomas d'’Aquin (Par. 1910); J. A. En-
dres, T. v. A. (1910). [J. A. Endres.)
Thomasius. Christian Thomasius gehörte
zu den bahnbrechenden Naturen, die dazu angetan
sind, nicht sowohl in alten Kreisen und Geleisen
sich fortzubewegen, als vielmehr eine neue Ent-
wicklung der Dinge vorzubereiten. Er hat den
Bann mancher Zeitanschauungen gebrochen und
namentlich dazu beigetragen, die im 17. Jahrh.
so mächtig angewachsene Herrschaft der lutherischen
Orthodoxie zu entkräften und der im 18. Jahrh.
hervortretenden „Aufklärung“ vorzuarbeilen. Da
ihm ein drangvoller, stürmischer, kampfeslustiger
Geist als Angebinde der Natur verliehen war, so
kann es nicht wundernehmen, daß sein Lebens-
weg weniger mit Rosen als mit Steinen besät
war. Gar manchen dieser Steine hat er aufge-
hoben, um ihn gegen andere zu schleudern, und
gar mancher ist auch von andern aufgehoben wor-
den, der in verletzender Weise ihn selber traf. Er
war geboren am 1. Jan. 1655 zu Leipzig als
Sohn des Professors der Beredsamkeit, Jakob
Thomasius, der auch Leibnizens Lehrer war. Nach-
dem er von seiten seines Vaters eine streng luthe-
rische Erziehung genossen hatte, studierte er an der
Universität seiner Vaterstadt Philosophie und
Rechtsgelehrsamkeit und unter Leitung seines Va-
ters namentlich Naturrecht nach H. Grotius und
Pufendorf, wurde aber aus einem Bekämpfer
beider bald deren Anhänger im Gegensatz zu seinem
Vater. 1679 promovierte er als Doktor der Rechte,
machte eine Reise nach Holland und widmete sich
alsdann in seiner Heimatstadt teils der juristischen
Praxis teils dem juristischen Lehramt und begann
namentlich über Naturrecht nach Hugo Grotius
und Pufendorf Vorträge zu halten und von seiten
der lutherischen Orthodorie eine Opposition gegen
sich wachzurufen, wie sie schon seit einem Jahrzehnt
gegen S. Pufendorf sich erhoben hatte.
Vom Antritt seines Lehramts an bis zu seinem
Lebensende stand Thomasius im Kampf mit der
lutherisch-orthodoxen Grundanschauung, welche
dem Menschen seit dem Sündenfall nur noch eine
gebundene, völlig ohnmächtige Vernunft= und
Willenskraft zugesteht, die nur vermittelst der
Offenbarung und Gnade einigermaßen entbunden
und betätigt werden kann; eine auf rein vernünf-
tige Betrachtung der Dinge sich stützende Philo-
sophie und insbesondere Naturrechtslehre ist danach
ein Ding der Unmöglichkeit und überhebende An-
maßung. Thomasius war kein Verächter des po-
sitiven Offenbarungs= und Schriftworts; nur die
Symbole als dessen maßgebende Auslegungs-
normen und die auf deren Grund geforderte Ver-
achtung der menschlichen Vernunft und eines ihr
entstammenden Naturrechts waren die Hauptobjekte
seines mit den Waffen feiner und unfeiner Salire
geführten Kampfes, obwohl er seinerseits einer
tiefer gehenden Spekulation und einer verständ-
nisvollen Wertschätzung klassischer Bildung er-
mangelte.