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Verfolgen wir nun etwas eingehender die ein-
zelnen Stadien dieses Kampfes in seinem viel-
bewegten Leben! 1685 ließ er eine Schrift De
crimine bigamige erscheinen, worin er ausführte,
daß die Polygamie zwar dem willkürlich-positiven
Recht (dem göttlichen wie menschlichen), keines-
wegs indessen dem Naturrecht widerspreche: schon
diese Aufstellung erregte Mißstimmung. Dazu
kam alsbald ein weiterer Umstand, der eine neue
und erhöhte Mißstimmung hervorrief. 1687 schrieb
er nämlich in deutscher Sprache ein Programm:
„welchergestalt man denen Franzosen im ge-
meinen Leben und Wandel nachahmen solle“,
worin er auseinanderlegte, daß sie „aus einem
überaus klugen Absehen“ ihre Werke großenteils
in der Muttersprache herausgeben und hierin
Nachahmung verdienen, und begann zugleich, über
„Gratians Grundregeln“ in deutscher Sprache
Vorlesungen zu halten, was als eine gegen alle
akademische Sitte verstoßende, unerhörte Neuerung
erschien. Und wie er fortan seine Vorlesungen teils
in deutscher teils in lateinischer Sprache hielt,
so schrieb er auch seine Abhandlungen und Werke
teils in deutscher teils in lateinischer Sprache.
Sein erstes Hauptwerk bilden die 1687 veröffent-
lichten Institutiones iurisprudentiae divinae,
von welchen er 1709 eine Ubersetzung unter dem
Titel „Anleitung zur göttlichen Rechtsgelahrtheit"
erscheinen ließ. Er wollte in diesem Werk, wie
schon auf dem Titelblatt angedeutet und später-
hin ausführlich erläutert wird, die Fundamente
des natürlich-göttlichen Rechts und die Fundamente
des positiv-göttlichen Rechts, soweit letzteres für
die ganze Menschheit und nicht bloß wie im Alten
Testament für ein bestimmtes Volk geoffenbart
worden, mit genauer Abgrenzung beider zur Dar-
stellung bringen gemäß den Hypothesen Pufen-
dorfs und mit Bekämpfung seines früheren Lehrers
und nunmehrigen Kollegen Valentin Alberti,
welcher in seinem Compendium iuris naturae
orthodoxkae Theologiae conformatum vom
Boden streng lutherischer Anschauung aus das
Naturrecht Pufendorfs einer Kritik unterzogen
hatte. Thomasius behauptete, daß dem Natur-
recht gar manches nicht widerspreche, was dem
positiv-göttlichen Recht widerspreche, z. B. die
Polygamie usw. Bald darauf (1688) unternahm
er noch einen weiteren Schritt, welcher sein Zer-
würfnis mit der an der Universität Leipzig und
anderwärts in Herrschaft stehenden Gelehrten-
und Theologenpartei noch klaffender machte. Er
gründete eine deutsche Monatsschrift, worin er auf
eine vielfach sarkastische Weise über die wissen-
schaftlichen Leistungen seiner Zeitgenossen Umschau
hielt. Diese zwei Jahrgänge erlebende Zeitschrift
machte ihn zum Mitbegründer der deutschen Jour-
nalistik. Der dänische Hofprediger Hektor Gott-
fried Masius hatte ein Buch über den „Vorteil,
welchen die wahre Religion den Fürsten gewähre",
veröffentlicht; darin empfahl er den Fürsten die
lutherische Religion, weil sie die fürstliche Gewalt
Staatslexilon. V. 3. u. 4. Aufl
Thomasius.
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unmittelbar von Gott ableite und dem gemeinen
Wesen den größten Vorteil bringe, während die
reformierte und die katholische Religion dem Geist
der Rebellion stets Vorschub leisteten. Im De-
zemberheft des ersten Jahrgangs seiner Zeitschrift
stritt nun Thomasius gegen eine derartige Empfeh-
lung der lutherischen Religion sowie gegen die
aller Vernunft, Geschichte und der Heiligen Schrift
hohnsprechende Aufstellung, daß Gott unmittelbar
die Quelle der staatlichen und insbesondere fürst-
lichen Gewalt sei. Selbst der König von Dänemark
drang zugunsten seines Hofpredigers bei dem Kur-
fürsten von Sachsen auf Bestrafung des Thoma-
sius wegen dieser von ihm vertretenen Ansichten.
Nicht sowohl aber dieser Umstand als die fort-
währenden Klagen seiner früheren Gegner machten
das Dresdener Oberkonsistorium seiner Person
und seiner Sache immer mehr abgeneigt. Dazu
kam noch die Tatsache, daß Thomasius in einem
besondern Kollegium über die „Vorurteile“ seine
Gegner als Heuchler hinstellte, welche „der Hei-
ligen Schrift, die allein die Richtschnur des wahren
christlichen Glaubens und der Gottesfurcht sein
sollte, eine andere Richtschnur an die Seite setzen,
nämlich menschliche Autorität oder von Menschen
gemachte Glaubensbekenntnisse, z. B. die Augs-
burgische Konfession, die sog. formulam con-
cordiae, und was des tollen Zeuges mehr sein
möchte“, und die wahren Christen, welche auf
Ausübung der christlichen Tugenden drängen, ver-
folgten und unter dem Namen von „Pietisten“
beschimpften. Er verteidigte deshalb auch seinen
pietistischen Kollegen A. H. Francke, welcher ein
vielbesuchtes biblisches Kollegium in praktisch-er=
baulichem Sinn hielt, in einem zu dessen Gunsten
abgefaßten Responsum und schrieb eine „Er-
örterung“ zugunsten der lutherisch-reformierten
Mischehe des Herzogs Moritz Wilhelm von Sach-
sen-Zeitz. Endlich gelang es den vereinigten An-
klagen der Leipziger und Wittenberger Theologen,
einen Befehl des Oberkonsistoriums zu erwirken,
die Universität möge Thomasius ungesäumt vor-
laden, ihm das Mißfallen des Kurfürsten über
seine bisherigen Schritte kundgeben und ihm bei
einer Strafe von 200 Gulden alle öffentlichen und
privaten Vorträge und die Publikation jeglicher
Schrift untersagen. Ein förmlicher Haftbefehl
gegen seine Person scheint nicht ergangen zu sein
(ogl. E. Landsberg, Zur Biographie von Thoma-
sius (1894).
Zum Wegzug genötigt, wandte sich Thomasius
1690 nach Berlin und ersuchte den Kurfürsten
von Brandenburg um die Erlaubnis, an der in
Halle bestehenden Ritterakademie Vorlesungen
halten zu dürfen. Die erbetene Erlaubnis wurde
ihm gewährt und die besagte Ritterakademie 1694
in eine Universität umgewandelt. Zu ihrer Grün-
dung hatte somit Thomasius den ersten Anstoß
gegeben. 1692 erhielt (sicherlich nicht ohne seinen
Einfluß) auch Francke einen Ruf an die neuge-
gründete Universität. So wurde Halle im Gegen-
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