455
rechtslehre von Ethik und Politik. Der Natur-
rechtslehre im engeren Sinn des Worts wird nun-
mehr bloß die Aufgabe gestellt, die Prinzipien des
Gerechten zu behandeln; die Prinzipien des Sitt-
lichen zu entwickeln, obliegt der Ethik, und die
Prinzipien der Wohlanständigkeit auseinander-
zulegen, obliegt der Politik (1 5, 58). Das
oberste Grundgebot für das praktische Handeln
lautet nunmehr: Es ist all das zu tun, was dem
Menschen ein möglichst langes und glückliches
Leben verschafft. Das Leben wird aber um so
glücklicher sein, je mehr für den äußern und
innern Frieden gesorgt ist. Der Herbeiführung
und Festigung des äußern Friedens dient das
Gerechte (iustum), indem es dessen Störung ver-
hindert, und das Wohlanständige (decorum), in-
dem es denselben positiv fördert; der Herbeifüh-
rung und Festigung des innern Friedens dient
dagegen das Sittliche (üonestum). So entstehen
drei speziellere Grundgebote für das praktische
Handeln. Das Grundgebot der Gerechtigkeit
lautet: Tue dem andern nicht, was du dir nicht
getan wünschest! Das Grundgebot der Wohl-
anständigkeit lautet: Tue dem andern, was du dir
getan wünschest! Das Grundgebot der Sittlich-
keit lautet: Tue dir selber, was du dir getan
Thomasius.
456
aus derselben in die Ethik hinüberverwiesen,
ebenso die Pflichten gegen Gott, und nur das jus
circa sacra ihr vorbehalten (II 1, 5—7; II
2, 2; III 6, 11. 12). Dieses ius circa sacra
wurde von Thomasius im Sinn des sog. Terri-
torialsystems ausgebildet. Nicht den Landesherren,
sofern sie durch Personalunion zugleich Bischöfe
sind im Sinn des lutherischen Episkopalsystems,
und nicht der kirchlichen Gemeinde im Sinn des
von Pufendorf vertretenen Kollegialsystems, son-
dern nach dem Vorgang von Hugo Grotius,
Spinoza, Hobbes dem Staat und den Staats-
regenten als solchen wurde das Kirchenregiment
von ihm zugeeignet. Die innern Religions= und
Kirchensachen, der religiöse Glaube der einzelnen
Individuen und Gemeinschaften, dessen Bekennt-
nis und Lehre und dessen Ausprägung in liturgi-
schen Formen sollen völlig frei sein, und wenn ein
„Fürst über solche Dinge sein Recht extendieren
will, sind ihm die Untertanen zu gehorchen nicht
schuldig, wohl aber sich ihm nicht zu widersetzen,
sondern das ihnen widerfahrene Unrecht zu dulden
verbunden" (Kurze Lehrsätze vom Recht eines christ-
lichen Fürsten in Religionssachen Nr 16. 17.74
bis 76. 91). Es wird indessen die weitgehende,
sehr dehnbare Beschränkung beigefügt, der Fürst
wünschest! (I 6, 21. 35. 40/42.) Die Rechts= sei nicht schuldig, solche Lehren zu dulden, welche
pflichten legen dem einzelnen eine äußere Verbind= den äußern Frieden des gemeinen Wesens stören,
lichkeit auf im Verhältnis zu andern und sind er= also staatsgefährlich seien, wie z. B. die atheistische
zwingbar, während die Pflichten der Wohlanstän= Lehre, ferner die orthodox-protestantische Lehre,
digkeit und Sittlichkeit dem einzelnen nur eine welche die Symbole zwangsmäßig schützen will,
innere Verbindlichkeit auferlegen und unerzwing= sowie die Lehre, daß man „keinem Ketzer Treue
bar sind (1 5, 21/25). Die Gesetze, denen ihre und Glauben halten müsse, daß Könige, die von
Verpflichtungskraft entquillt, haben den Charakter der Klerisei exkommuniziert worden, aushörten,
eigentlicher Befehle nur insoweit, als sie mit Könige zu sein“, sowie endlich die Lehre, daß man
Zwangsmaßregeln geltend gemacht werden, ohne= verbunden sei, „einem andern Menschen oder Kol-
dem nicht; es haben also nur die positiv--mensch= legio, die nicht unter des Fürsten Botmäßigkeit
lichen Rechtsgesetze den Charakter eigentlicher Be= sind, mehr zu gehorchen als ihrem Fürsten, es sei
fehle, die Gesetze des natürlichen Rechts rein als nun dieser Mensch oder dieses Kollegium zu Kon-
solche sowie jene der Wohlanständigkeit und Sitt= stantinopel, Rom, Wittenberg oder sonst, wo es
lichkeit haben mehr den Charakter von Belehrungen wolle“ (Nr 80/84). Die weltliche Obrigkeit oder
und Räten (1 4, 50/59; 1 5, 34. 35. 40). Wie 6 der Fürst haben kraft landesherrlicher Oberhoheit
gewinnen aber alle diese Gesetze Verpflichtungs= ferner alle äußern Religionssachen zu ordnen
kraft für uns? Hier stoßen wir auf einen weiteren (Nr 93. 94). „Hieraus folgt denn auch, daß,
Schritt, welchen Thomasius über das erste Haupt= wenn ein Prediger bei einer Gemeinde arger und
werk im zweiten getan. Hatte er früher im mit der Konfession der Zuhörer nicht überein-
Gegensatz zu Hugo Grotius alle und jede Ver- kommender Lehre beschuldigt wird, ein Fürst die
pflichtung aus dem unserer Vernunft einleuch- Sache durch unpartheyische Leute kann unter-
tenden göltlichen Willen abgeleitet, so führt er suchen und nach Befindung derselben ihn des
nunmehr aus, daß eine bloß innerliche Verpflich= Dienstes entlassen oder dabey schützen“ (Das Recht
tung, die nicht den Charakter einer befehlsmäßigen, evangelischer Fürsten in theologischen Streitig-
äußern Rechts= und Zwangsverpflichtung hat, keiten (1696)).
auch ohne Gottesbewußtsein entstehen und be-
stehen könne (1 6, 5/,8). Hiermit war schon
ein halber Schritt getan, Moral- und Rechts-
lehre zusammen nicht bloß von der positiven
Theologie, sondern auch von der natürlichen
Theologie und Religion loszulösen. Die besondere
Naturrechtslehre wird vom zweiten Hauptwerk
nur behandelt in Form kritischer Bemerkungen
zum ersten. Die Pflichten gegen sich selbst werden
Es ist Thomasius als Verdienst anzurechnen,
daß er der Naturrechtslehre eine prinzipielle
Selbständigkeit im Verhältnis zur positiven Theo-
logie vindizierte gegenüber der die menschliche
Vernunftkrast unterschätzenden lutherischen Ortho-
doxie und eine methodische Scheidung derselben
vollzog. In seinen naturrechtlichen und in seinen
zwischen Sensualismus und Mystizismus hin und
her schwankenden philosophischen und nicht minder