Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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rechtslehre von Ethik und Politik. Der Natur- 
rechtslehre im engeren Sinn des Worts wird nun- 
mehr bloß die Aufgabe gestellt, die Prinzipien des 
Gerechten zu behandeln; die Prinzipien des Sitt- 
lichen zu entwickeln, obliegt der Ethik, und die 
Prinzipien der Wohlanständigkeit auseinander- 
zulegen, obliegt der Politik (1 5, 58). Das 
oberste Grundgebot für das praktische Handeln 
lautet nunmehr: Es ist all das zu tun, was dem 
Menschen ein möglichst langes und glückliches 
Leben verschafft. Das Leben wird aber um so 
glücklicher sein, je mehr für den äußern und 
innern Frieden gesorgt ist. Der Herbeiführung 
und Festigung des äußern Friedens dient das 
Gerechte (iustum), indem es dessen Störung ver- 
hindert, und das Wohlanständige (decorum), in- 
dem es denselben positiv fördert; der Herbeifüh- 
rung und Festigung des innern Friedens dient 
dagegen das Sittliche (üonestum). So entstehen 
drei speziellere Grundgebote für das praktische 
Handeln. Das Grundgebot der Gerechtigkeit 
lautet: Tue dem andern nicht, was du dir nicht 
getan wünschest! Das Grundgebot der Wohl- 
anständigkeit lautet: Tue dem andern, was du dir 
getan wünschest! Das Grundgebot der Sittlich- 
keit lautet: Tue dir selber, was du dir getan 
  
  
Thomasius. 
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aus derselben in die Ethik hinüberverwiesen, 
ebenso die Pflichten gegen Gott, und nur das jus 
circa sacra ihr vorbehalten (II 1, 5—7; II 
2, 2; III 6, 11. 12). Dieses ius circa sacra 
wurde von Thomasius im Sinn des sog. Terri- 
torialsystems ausgebildet. Nicht den Landesherren, 
sofern sie durch Personalunion zugleich Bischöfe 
sind im Sinn des lutherischen Episkopalsystems, 
und nicht der kirchlichen Gemeinde im Sinn des 
von Pufendorf vertretenen Kollegialsystems, son- 
dern nach dem Vorgang von Hugo Grotius, 
Spinoza, Hobbes dem Staat und den Staats- 
regenten als solchen wurde das Kirchenregiment 
von ihm zugeeignet. Die innern Religions= und 
Kirchensachen, der religiöse Glaube der einzelnen 
Individuen und Gemeinschaften, dessen Bekennt- 
nis und Lehre und dessen Ausprägung in liturgi- 
schen Formen sollen völlig frei sein, und wenn ein 
„Fürst über solche Dinge sein Recht extendieren 
will, sind ihm die Untertanen zu gehorchen nicht 
schuldig, wohl aber sich ihm nicht zu widersetzen, 
sondern das ihnen widerfahrene Unrecht zu dulden 
verbunden" (Kurze Lehrsätze vom Recht eines christ- 
lichen Fürsten in Religionssachen Nr 16. 17.74 
bis 76. 91). Es wird indessen die weitgehende, 
sehr dehnbare Beschränkung beigefügt, der Fürst 
wünschest! (I 6, 21. 35. 40/42.) Die Rechts= sei nicht schuldig, solche Lehren zu dulden, welche 
pflichten legen dem einzelnen eine äußere Verbind= den äußern Frieden des gemeinen Wesens stören, 
lichkeit auf im Verhältnis zu andern und sind er= also staatsgefährlich seien, wie z. B. die atheistische 
zwingbar, während die Pflichten der Wohlanstän= Lehre, ferner die orthodox-protestantische Lehre, 
digkeit und Sittlichkeit dem einzelnen nur eine welche die Symbole zwangsmäßig schützen will, 
innere Verbindlichkeit auferlegen und unerzwing= sowie die Lehre, daß man „keinem Ketzer Treue 
bar sind (1 5, 21/25). Die Gesetze, denen ihre und Glauben halten müsse, daß Könige, die von 
Verpflichtungskraft entquillt, haben den Charakter der Klerisei exkommuniziert worden, aushörten, 
eigentlicher Befehle nur insoweit, als sie mit Könige zu sein“, sowie endlich die Lehre, daß man 
Zwangsmaßregeln geltend gemacht werden, ohne= verbunden sei, „einem andern Menschen oder Kol- 
dem nicht; es haben also nur die positiv--mensch= legio, die nicht unter des Fürsten Botmäßigkeit 
lichen Rechtsgesetze den Charakter eigentlicher Be= sind, mehr zu gehorchen als ihrem Fürsten, es sei 
fehle, die Gesetze des natürlichen Rechts rein als nun dieser Mensch oder dieses Kollegium zu Kon- 
solche sowie jene der Wohlanständigkeit und Sitt= stantinopel, Rom, Wittenberg oder sonst, wo es 
lichkeit haben mehr den Charakter von Belehrungen wolle“ (Nr 80/84). Die weltliche Obrigkeit oder 
und Räten (1 4, 50/59; 1 5, 34. 35. 40). Wie 6 der Fürst haben kraft landesherrlicher Oberhoheit 
gewinnen aber alle diese Gesetze Verpflichtungs= ferner alle äußern Religionssachen zu ordnen 
kraft für uns? Hier stoßen wir auf einen weiteren (Nr 93. 94). „Hieraus folgt denn auch, daß, 
Schritt, welchen Thomasius über das erste Haupt= wenn ein Prediger bei einer Gemeinde arger und 
werk im zweiten getan. Hatte er früher im mit der Konfession der Zuhörer nicht überein- 
Gegensatz zu Hugo Grotius alle und jede Ver- kommender Lehre beschuldigt wird, ein Fürst die 
pflichtung aus dem unserer Vernunft einleuch- Sache durch unpartheyische Leute kann unter- 
tenden göltlichen Willen abgeleitet, so führt er suchen und nach Befindung derselben ihn des 
nunmehr aus, daß eine bloß innerliche Verpflich= Dienstes entlassen oder dabey schützen“ (Das Recht 
tung, die nicht den Charakter einer befehlsmäßigen, evangelischer Fürsten in theologischen Streitig- 
äußern Rechts= und Zwangsverpflichtung hat, keiten (1696)). 
auch ohne Gottesbewußtsein entstehen und be- 
stehen könne (1 6, 5/,8). Hiermit war schon 
ein halber Schritt getan, Moral- und Rechts- 
lehre zusammen nicht bloß von der positiven 
Theologie, sondern auch von der natürlichen 
Theologie und Religion loszulösen. Die besondere 
Naturrechtslehre wird vom zweiten Hauptwerk 
nur behandelt in Form kritischer Bemerkungen 
zum ersten. Die Pflichten gegen sich selbst werden 
  
  
Es ist Thomasius als Verdienst anzurechnen, 
daß er der Naturrechtslehre eine prinzipielle 
Selbständigkeit im Verhältnis zur positiven Theo- 
logie vindizierte gegenüber der die menschliche 
Vernunftkrast unterschätzenden lutherischen Ortho- 
doxie und eine methodische Scheidung derselben 
vollzog. In seinen naturrechtlichen und in seinen 
zwischen Sensualismus und Mystizismus hin und 
her schwankenden philosophischen und nicht minder
	        
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