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in seinen theologischen Einzelanschauungen erweist
er sich aber nach vielen Seiten hin als Vorläufer
einer schalen Aufklärung. Als Verdienst ist ihm
weiterhin zuzurechnen, daß er eine methodische
Scheidung der Naturrechtslehre und Naturethik
vollzog. Wie soll nun Recht und Sittlichkeit im
engern Sinn dieser beiderlei Worte unterschieden
sein: Das Recht hat den äußern Frieden, die
äußere Glückseligkeit des irdischen Gemeinwesens,
die Sittlichkeit dagegen den innern Frieden, die
innere Glückseligkeit zum Ziel. Sofern diese Unter-
scheidung von einem bloß sinnlichen, utilitaristi-
schen Eudämonismus sich fern hält, ist sie als be-
rechtigt zuzugeben; haarscharfe Grenzlinie beider
Bereiche kann freilich schon aus dem Grund nicht
gezogen werden, weil je nach Maßgabe der ver-
schiedenen konkreten Verhältnisse diese Grenzlinie
verschieden gezogen werden muß. Das Recht ist
nach Thomasius ferner physisch erzwingbar, die
Sittlichkeit dagegen nicht; auch dieses Unter-
scheidungsmerkmal ist als berechtigt zuzugeben,
wenn die physische Erzwingbarkeit des Rechts nicht
als dessen Grund genommen wird. Das Recht
soll nach Thomasius ferner ein Verhältnis zu
andern bedeuten, weil niemand ein Recht und eine
Rechtspflicht gegen sich selber haben und verletzen
kann; nur das Sittliche soll zunächst auf den ein-
zelnen selber gehen (Fund. juris nat. I 5, 16
bis 18; 16, 40 f). Es ist aber immerhin frag-
lich, ob die persönlichen Urrechte nicht schon eigent-
liche Rechte wären, auch wenn nur ein einziger
Mensch existierte, und jedenfalls muß auf das
entschiedenste festgehalten werden, daß es nicht
bloß eine Individualethik, sondern auch eine
Sozialethik gebe, und daß gerade sie die belebende
Seele des Staats= und Völkerrechts bilden soll.
In seinem ersten Hauptwerk hat Thomasius
endlich das Naturrecht und dessen wissenschaftliche
Darstellung ganz wesentlich durch ein natürlich-
religiöses Prinzip unterbaut, indem er Gott zum
einzigen Grund aller Verpflichtung machte, miß-
verständlicherweise jedoch die Scholastiker dahin
gedeutet, als ob sie die natürlichen Rechts= und
Sittengesetze bloß aus der Natur (Gerechtigkeit
und Heiligkeit) Gottes hätten ableiten wollen
völlig abgesehen von der endlichen Natur der durch
ihn als möglich erschauten Kreaturen, als ob ferner
nicht gar manche Scholastiker Gott als einzigen
Grund aller Verpflichtung erachtet hätten, gleich
ihm selber. In seinem spätern Hauptwerk voll-
brachte er dagegen schon einen halben Schritt zur
Kantschen Lehre von der Autonomie der prak-
tischen Vernunft hinüber, ohne deren Gefährlich-
keit und Verderblichkeit zu erkennen. Das negative
Prinzip, auf welchem er in diesem Werk die
Naturrechtslehre aufbauen will, kann nur dem
Privatrecht, nicht dem Staatsrecht zur Stütze
dienen. Mit gutem Grund hat Thomasius den
Ursprung des Rechts aus freiem Vertrag ver-
worfen; mit gleichem Grund hätte er auch den Ur-
sprung des mit Zwangsrecht ausgerüsteten Staats-
Thronentsagung — Thronrfolge. 458
organismus aus bloßem Vertrag verwerfen sollen.
Das von ihm ausgebildete Territorialsystem er-
scheint seinem Prinzip nach als wohlerklärlich und
wohlberechtigt, wenn es vom geschichtlichen Boden
des Luthertums aus beurteilt wird; denn seit Be-
endigung des Bauernkriegs haben die lutherischen
Fürsten sicherlich nicht kraft irgendwelcher Über-
tragung und Bevollmächtigung von Reichs wegen
oder Volks wegen im Sinn des Episkopal= oder
Kollegialsystems, sondern kraft fürstlicher Gewalt
die katholischen Kirchengüter säkularisiert, die alte
Kirchenordnung zerstört, neue Kirchenordnungen
eingeführt und die Zügel des neuen Kirchen-
regiments in die Hand genommen. Das Terri-
torialsystem kann seinem Prinzip nach auch vom
rein naturrechtlichen Standpunkt aus als zulässig
eingeräumt werden, sofern mit dem hl. Thomas
von Aquin (De reg. principum I. 1, c. 14) und
verschiedenen scholastischen Theologen angenommen
wird, daß rein naturrechtlich den Staatsobrig-
keiten auch die Leitung der religiösen Angelegen-
heiten zustehen würde. Vom Standpunkt der
faktisch bestehenden Gnadenordnung aber aus ist
nach katholischer Lehre jenes System völlig ver-
werflich, indem Gott den Aposteln und deren
Nachfolgern nicht bloß die innere, sondern auch
die äußere Leitung der Kirche anvertraut hat. In
der näheren Ausführung, welche das System durch
Thomasius erlangt hat, finden sich auffallender-
weise auch schon all diejenigen Grundgedanken aus-
gesprochen, die von den Vertretern des modernen
Staatskirchentums weiter entwickelt und besonders
von Hegel geltend gemacht worden sind.
Literatur. über Leben, Schriften u. Lehre
des T. möge noch verglichen werden: H. Luden,
Christian T. nach seinen Schicksalen u. Schriften
(1805); A. Nicoladini, Christian T., ein Beitrag
zur Geschichte der Aufklärung (1888); Hinrichs,
Geschichte der Rechts= u. Staatsprinzipien III
(1852) 122/304; Biedermann, Deutschland im
18. Jahrh. II (1854/67) 353/391; E. Landsberg,
Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt.,
1. Halbbd, bearbeitet von R. Stintzing (1898),
Textbd 71/110, Notenbd 45/64 u. 364.
A. v. Schmid, rev. Ettlinger.)
Thronentsagung s. Abdankung.
Thronfolge. (Geschichtliche Entwicklung.
Das Wesen der Thronfolge. Die Fähigkeit der zur
Thronfolge Berufenen. Die Thronfolgeordnung.
Thronfolge der Frauen. Testamentarische, ver-
tragsmäßige Thronfolge. Die Thronfolge auf
Grund von Gesamtbelehnungen, Eventualbeleh-
nungen und Lehnsanwartschaften. Was hat bei dem
Mangel von Thronfolgeberechtigten zu geschehen?
Die regierenden Hauser besaßen im Mittelalter
und in den auf dasselbe folgenden Jahrhunderten
die von ihnen regierten Gebiete auf sehr verschie-
dene Rechtstitel hin, so zunächst als Allode. In
diesen war der Herrscher zugleich Grundherr.
Wo das der Fall war, war die Erblichkeit der
Herrscherwürde von jeher unbezweifelt, und zwar
richtete sich diese Erblichkeit in den deutschen Län-
dern und in denjenigen, in welchen die germanischen