Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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sprach. Wenn eine Erbtochter oder Nachkommen 
einer solchen nicht vorhanden sind, so kommen 
hinsichtlich der Frauen der Seitenlinien und ihrer 
Nachkommen dieselben Grundsätze zur Anwendung, 
welche bezüglich der Thronfolge der Agnaten der 
Seitenlinien maßgebend sind, und macht es also 
gleichfalls einen Unterschied, ob und inwieweit die 
Erstgeburtordnung eingeführt ist oder nicht. Was 
nun aber die Frage anlangt, welche weibliche 
Person als die dem letztregierenden Souverän am 
nächsten stehende anzusehen sei, so finden sich in 
den der Jetztzeit angehörenden gesetzlichen Anord- 
nungen verschiedenartige Festsetzungen. In ge- 
wissen Staaten kommt nämlich das reine Lineal- 
system mit der Erstgeburtordnung nicht nur bei 
der Thronfolge des Mannsstammes, sondern auch 
bei der weiblichen Thronfolge zur Anwendung, und 
ist dies z. B. in Bayern der Fall. Anderwärts 
findet sich dagegen die Verfügung, daß der Weibs- 
stamm nach dem Linealgradualsystem zur Thron- 
folge gelange. Wenn es sich nun trifft, daß unter 
den nach diesem System Erbberechtigten zwei Per- 
sonen in gleichem Grad mit dem letzten Thron- 
inhaber verwandt sind, so wird von den betreffen- 
den Verfassungsurkunden entweder dahin entschie- 
den, daß das Alter der Linien, und wenn auch 
dieses gleich ist, das Alter der Person ausschlag- 
gebend ist (das setzt z. B. die Verfassungsurkunde 
des Königreichs Sachsen vom Jahr 1831 fest), 
oder die Bestimmung getroffen, daß ohne weiteres 
der älteren Person das stärkere Recht zusteht, wie 
das die Verfassungen von Württemberg vom Jahr 
1840 und Hessen vom Jahr 1820 aussprechen. 
In einigen Verfassungen ist die Bestimmung 
getroffen, daß beim Erlöschen des Mannsstammes 
die Thronfolge der Frauen und ihrer Nachkommen 
nur unter der Einschränkung zulässig sei, daß keine 
Erbverbrüderung bestehe, durch welche einem andern 
Haus die Thronfolge gesichert werde. Es ist das 
z. B. in Bayern und im Königreich Sachsen der 
Fall. Wenn aber die gesetzlichen Vorschriften 
nicht ausdrücklich in diesem Sinn verfügen, so 
muß vermutet werden, daß dem Weibsstamm sein 
eventueller Rechtsanspruch auf die Thronfolge 
ebenso sicher zustehe wie dem Mannsstamm seine 
Thronfolgerechte. Es darf also dieser Stamm, 
und auch der letzte agnatische Sprosse desselben, 
keine Verträge schließen, wodurch der Weibsstamm 
in seinen Thronfolgerechten verkürzt wird. Tritt 
der Fall wirklich ein, daß der Besitz der Krone an 
eine Frau gelangt, so ist diese berechtigt, die Re- 
gierung selbst zu führen, als ob sie ein Mann 
wäre. Die badische Deklaration vom 4. Okt. 
1817 ist unter den gegenwärtig noch in Geltung 
stehenden Verfassungsgesetzen von Ländern, die 
zum alten römisch-deutschen Reich gehörten, das 
einzige, welches die Anordnung trifft, daß der 
nächste männliche Nachkomme der weiblichen Linie 
mit lberspringung der an sich zunächst berechtigten 
Frau zur Thronfolge zu gelangen habe. Wenn 
beim Ubergang des Throns an den Weibsstamm 
  
Thronfolge. 
  
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eine Person männlichen und eine solche weiblichen 
Geschlechts in gleichem Verhältnis der Berech- 
tigung stehen, so hat im Zweifel, d. h. da, wo 
keine ausdrücklichen Bestimmungen für diesen Fall 
getroffen sind, der männliche Berechtigte den Vor- 
zug. In den Verfassungsurkunden der Jetztzeit wird 
jedoch entweder durch Bestätigung der Erstgeburt- 
ordnung auch bezüglich des Weibsstammes oder 
in sonstiger Weise dafür Sorge getragen, daß ein 
Wettstreit mehrerer Thronfolgeberechtigterin diesem 
Stamm nicht vorkommt, und so wird denn in den- 
selben meistens ausgesprochen, daß das Geschlecht 
bei dem Anfall der Krone keinen Unterschied mache 
(so z. B. in Bayern, Sachsen und Württemberg). 
Sobald aber der Thron in den Besitz einer Frau 
oder eines männlichen Sprossen einer Thronfolge- 
berechtigten gelangt ist, tritt bezüglich der Ver- 
erbung desselben der Vorzug des männlichen Ge- 
schlechts vor dem weiblichen und überhaupt die für 
den Mannsstamm gültige Thronfolge sofort in 
Kraft. Es ist dies in allen neueren Verfassungen 
ausdrücklich anerkannt. Wenn die Staatsgesetze 
den Grundsatz festhalten, daß der Souverän nicht 
gleichzeitig Herrscher eines andern Landes sein 
darf, so findet sich bisweilen, z. B. in Bayern, die 
Bestimmung getroffen, daß bei dem durch die Erb- 
berechtigung des Weibsstammes erfolgenden Uber- 
gang der Krone an einen größeren Monarchen 
oder Kronprinzen dieselbe ohne weiteres dem zweit- 
gebornen Prinzen übertragen werden solle. 
Es kann aber auch der Fall vorkommen, daß 
beim Erlöschen des Mannsstammes eines regie- 
renden Hauses keine weiblichen Erbfolgeberechtigten 
vorhanden sind. Ist nun unter solchen Umständen 
der letzte Inhaber der Krone berechtigt, testamen- 
tarische Verfügungen über die Thronfolge in 
die Herrscherwürde zu treffen? Es ist dies nicht 
der Fall. In den Verfassungsstaaten der Jetzt- 
zeit kann die Regierungsgewalt über das Land 
nicht mehr als der Ausfluß eines reinen patri- 
monialen Herrschaftsrechts darüber erscheinen. 
Es können demnach nicht die Hausgesetze und auch 
nicht testamentarische Verfügungen über die Ge- 
schicke des Landes einseitig entscheiden. Da nun 
die neueren Verfossungen der verschiedenen Staaten 
die Ordnung der Thronfolge durch Testament des 
Herrschers nicht ausdrücklich zulassen, so ist eine 
solche unbedingt als nicht zulässig zu betrachten. 
Vor nicht allzu langer Zeit war dem freilich 
anders. Es braucht diesbezüglich nur an das 
Testament erinnert zu werden, durch welches 
Karl II., der letzte Herrscher Spaniens aus dem 
Hause Habsburg, im Jahr 1700 über seine Krone 
zugunsten des Hauses Bourbon verfügte, um zu 
beweisen, wie weit verbreitet, wenn auch nicht un- 
bestritten, damals die Anschauung war, daß dem 
Souverän die Befugnis zustehe, bezüglich der 
Thronfolge testamentarische Anordnungen zu 
treffen. 
Von größerer praktischer Bedeutung ist die ver- 
tragsmäßige Reglung der Thronfolge. Zwar
	        
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