Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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gewordene ästhetische und liberale Halbchristentum 
seiner Umgebung verachten. Als er am 5. April 
1827 Hilfsrichter zu Versailles wurde, wo sein 
Vater Präfekt war, dann mit seinem intimsten 
Freund und späteren Biographen, G. de Beaumont, 
als Substitut bei der Staatsanwaltschaft einge- 
treten war, brach die innere Unruhe und die alte 
Unzufriedenheit sich noch stärker Bahn. Nicht ohne 
Bedenken leistete er 1830 der neuen Regierung, 
dem Sohn des Philipp Egalité, den Verfassungs- 
eid, nachdem er sich der richterlichen Anwendung 
der Preßordonnanzen Jules Polignacs geweigert 
hatte. Bei solchem Unbehagen in seiner amtlichen 
Stellung, inmitten der nicht endenden politischen 
Erschütterungen seiner Zeit und nächsten Um- 
gebung, die ihm zuerst das Problem seiner Lebens- 
arbeit, die Aussöhnung von Gleichheit und Frei- 
heit, zum Bewußtsein brachten, ließ er sich in 
Gemeinschaft mit G. de Beaumont, um einer für 
ihn kaum mehr erträglichen Lage zu entgehen, vom 
Minister des Innern, Montalivet, nach Unter- 
breitung eines gemeinsamen Gutachtens über die 
damals viel erörterte Frage der Reform des fran- 
zösischen Gefängniswesens nach dem Muster des 
sog. pennsylvanischen Systems mit einer Mission 
nach Nordamerika betrauen; nach de Beau- 
monts Geständnis sollte indessen das Studium der 
Einrichtungen und der Sitten der amerikanischen 
Gesellschaft vorwalten. 
Am 10. Mai 1831 landeten die Freunde in 
Neuyork. Mit wahrem Feuereifer begannen sie die 
Lösung ihrer Aufgabe, zuerst die des Studiums 
der Gesängnisse in Neuyork, Connecticut und 
Pennsylvanien. Überall an Ort und Stelle, im 
ständigen Umgang mit den Behörden, Arzten, 
Geistlichen und Aussehern und den Gefangenen 
selbst sammelten sie das Material zur Beurteilung 
der beiden in Frage kommenden Hauptsysteme, 
der gänzlichen Isolierhaft (Cherry-Hill) oder der 
zeitweisen, meist auf die Nacht beschränkten (Auburn). 
Das Ergebnis war die Schrift: Du Systeme 
pénitentiaire aux Etats-Unis et de son ap- 
plication en France suivi d’'un appendice sur 
les Colonies pénales et de notes historiques 
(Par. 1832, 71845). Mit seiner Vorliebe für die 
strenge Isolierhaft drang Tocqueville nicht durch; 
immerhin bleibt unter den klassischen Werken über 
das moderne Skrafvollzugssystem die Schrift 
eine der lesenswertesten wegen der Fülle des darin 
verarbeiteten historischen und kritischen Stoffs. 
Hinsichtlich der weiteren Aufgabe der Erforschung 
des nordamerikanischen Gesellschaftslebens lieg! 
eine erst später veröffentlichte, umfassende Korre- 
spondenz vor, welche die Studien und Reise- 
eindrücke wiedergibt und gleichsam als das 
Vorwort der ersten Hauptschrift seines Lebens ge- 
würdigt sein will. Schöneres und Geistvolleres 
als diese Reisebriefe hat Tocqueville nicht ge- 
schrieben: sie tragen das feurige, ideale Gepräge 
eines selten begabten Mannes, der sich seiner 
Lebensaufgabe jetzt bewußt geworden ist. Welcher 
Tocqueville. 
  
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Gegensatz zu Frankreich überall und in allem! 
Hier bilden alte Traditionen, Gewohnheiten, wilde 
Parteizerklüstung, die Macht alter Erinnerungen 
die Pole der öffentlichen Meinung, dort lebt in 
Sitte, Gesetz wie in der Meinung der Majorität 
Einfachheit, Ursprünglichkeit, tiefer Sinn für Ge- 
setzlichkeit, Religiosität, Ordnung und Stabilität 
trotz aller ruhelosen Beweglichkeit von Menschen 
und Gesetzen, trotz einer auf die Spitze getriebenen 
äußern Gleichheit und Gleichförmigkeit der Lebens- 
art und der Ideenrichtung. Ist diese neue Welt 
eine Schöpfung der Demokratie, zu der das Volk 
verfassungsmäßig sich bekennt, jener Demokratie, 
welcher die Neuzeit seit 1789 entgegenstrebt?2 
Tocqueville hält nicht mit seiner Vorliebe, wohl 
aber mit seinen Endurteilen hier noch zurück; er 
sieht, erkennt und erforscht Mißstände, weist hin 
auf große Gefahren; nur die Überlegenheit der 
freien Verfassungen über alle andern sieht ihm 
einstweilen außer Zweifel. Auch hinsichtlich des 
für die Zukunft der beobachiteten Demokratie ent- 
scheidend wichtigen religiösen Problems kommt er 
trotz seiner andauernden, scharfen Beobachtung 
nicht zu einem endgültigen Resultat. Er konstatiert 
immerhin ein Dreifaches: daß der Katholizismus 
im Gegensatz zu dem sich auflösenden Protestantis- 
mus das Prinzip der Einheit und der Autorität 
verkörpere, daß er gegenüber dem Rationalismus 
und dem Illuminismus im Wachsen bleibe, und 
daß ihm inmitten der sich ausbreitenden religiösen 
Anarchie und Indifferenz die Zukunft gehöre. 
Schneller, als Tocqueville erwartet, sollte als- 
bald nach der Rückkehr aus Nordamerika die 
Entscheidung über seine äußere Lebens- 
stellung fallen. G. de Beaumonts Weigerung, 
in dem Schmutzprozeß Feucheres-Bourbon die 
Stellungnahme der Versailler Staatsanwaltschaft 
zu vertreten (Mai 1833), führte zu dessen Ent- 
lassung und 21. Mai 1833 zu Tocquevilles frei- 
willigem Rücktritt von seinem Amt und vom 
Staatsdienst. Von der wiedergewonnenen Freiheit 
machte er sofort Gebrauch in der großes Aufsehen 
erregenden Verteidigung seines legitimistischen 
Freundes, des bretonischen Marineoffiziers de Ker- 
golay, der in die der Landung der Herzogin von 
Berry folgenden Unruhen verwickelt war, zog sich 
dann aber zu mehrjährigem Stillleben, zuerst 
in Paris, dann auf dem Stammschloß Tocqueville 
zurück. Was er dort in rastlosem Fleiß arbeitete, 
wußten nur seine Freunde. Die innere Lebens- 
verbindung der damals herrschenden liberalen 
Ideen und des religiösen Glaubens, der Autori- 
tät und der Gleichheit, der Ordnung und des 
Fortschritts, also das uralte und doch immer neue 
Problem von der besten Staats= und Sozial- 
ordnung, welches die Julirevolution mit ihren 
unerhörlen und schnellen Siegen aufs neue vor 
der erstaunten Welt entrollt hatte, war Gegenstand 
seiner Forschung, deren Ergebnisse er nun (1836) 
in seinem ersten Hauptwerk De la Demo- 
cratie en Amérique der Offentlichkeit unter-
	        
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