471
gewordene ästhetische und liberale Halbchristentum
seiner Umgebung verachten. Als er am 5. April
1827 Hilfsrichter zu Versailles wurde, wo sein
Vater Präfekt war, dann mit seinem intimsten
Freund und späteren Biographen, G. de Beaumont,
als Substitut bei der Staatsanwaltschaft einge-
treten war, brach die innere Unruhe und die alte
Unzufriedenheit sich noch stärker Bahn. Nicht ohne
Bedenken leistete er 1830 der neuen Regierung,
dem Sohn des Philipp Egalité, den Verfassungs-
eid, nachdem er sich der richterlichen Anwendung
der Preßordonnanzen Jules Polignacs geweigert
hatte. Bei solchem Unbehagen in seiner amtlichen
Stellung, inmitten der nicht endenden politischen
Erschütterungen seiner Zeit und nächsten Um-
gebung, die ihm zuerst das Problem seiner Lebens-
arbeit, die Aussöhnung von Gleichheit und Frei-
heit, zum Bewußtsein brachten, ließ er sich in
Gemeinschaft mit G. de Beaumont, um einer für
ihn kaum mehr erträglichen Lage zu entgehen, vom
Minister des Innern, Montalivet, nach Unter-
breitung eines gemeinsamen Gutachtens über die
damals viel erörterte Frage der Reform des fran-
zösischen Gefängniswesens nach dem Muster des
sog. pennsylvanischen Systems mit einer Mission
nach Nordamerika betrauen; nach de Beau-
monts Geständnis sollte indessen das Studium der
Einrichtungen und der Sitten der amerikanischen
Gesellschaft vorwalten.
Am 10. Mai 1831 landeten die Freunde in
Neuyork. Mit wahrem Feuereifer begannen sie die
Lösung ihrer Aufgabe, zuerst die des Studiums
der Gesängnisse in Neuyork, Connecticut und
Pennsylvanien. Überall an Ort und Stelle, im
ständigen Umgang mit den Behörden, Arzten,
Geistlichen und Aussehern und den Gefangenen
selbst sammelten sie das Material zur Beurteilung
der beiden in Frage kommenden Hauptsysteme,
der gänzlichen Isolierhaft (Cherry-Hill) oder der
zeitweisen, meist auf die Nacht beschränkten (Auburn).
Das Ergebnis war die Schrift: Du Systeme
pénitentiaire aux Etats-Unis et de son ap-
plication en France suivi d’'un appendice sur
les Colonies pénales et de notes historiques
(Par. 1832, 71845). Mit seiner Vorliebe für die
strenge Isolierhaft drang Tocqueville nicht durch;
immerhin bleibt unter den klassischen Werken über
das moderne Skrafvollzugssystem die Schrift
eine der lesenswertesten wegen der Fülle des darin
verarbeiteten historischen und kritischen Stoffs.
Hinsichtlich der weiteren Aufgabe der Erforschung
des nordamerikanischen Gesellschaftslebens lieg!
eine erst später veröffentlichte, umfassende Korre-
spondenz vor, welche die Studien und Reise-
eindrücke wiedergibt und gleichsam als das
Vorwort der ersten Hauptschrift seines Lebens ge-
würdigt sein will. Schöneres und Geistvolleres
als diese Reisebriefe hat Tocqueville nicht ge-
schrieben: sie tragen das feurige, ideale Gepräge
eines selten begabten Mannes, der sich seiner
Lebensaufgabe jetzt bewußt geworden ist. Welcher
Tocqueville.
472
Gegensatz zu Frankreich überall und in allem!
Hier bilden alte Traditionen, Gewohnheiten, wilde
Parteizerklüstung, die Macht alter Erinnerungen
die Pole der öffentlichen Meinung, dort lebt in
Sitte, Gesetz wie in der Meinung der Majorität
Einfachheit, Ursprünglichkeit, tiefer Sinn für Ge-
setzlichkeit, Religiosität, Ordnung und Stabilität
trotz aller ruhelosen Beweglichkeit von Menschen
und Gesetzen, trotz einer auf die Spitze getriebenen
äußern Gleichheit und Gleichförmigkeit der Lebens-
art und der Ideenrichtung. Ist diese neue Welt
eine Schöpfung der Demokratie, zu der das Volk
verfassungsmäßig sich bekennt, jener Demokratie,
welcher die Neuzeit seit 1789 entgegenstrebt?2
Tocqueville hält nicht mit seiner Vorliebe, wohl
aber mit seinen Endurteilen hier noch zurück; er
sieht, erkennt und erforscht Mißstände, weist hin
auf große Gefahren; nur die Überlegenheit der
freien Verfassungen über alle andern sieht ihm
einstweilen außer Zweifel. Auch hinsichtlich des
für die Zukunft der beobachiteten Demokratie ent-
scheidend wichtigen religiösen Problems kommt er
trotz seiner andauernden, scharfen Beobachtung
nicht zu einem endgültigen Resultat. Er konstatiert
immerhin ein Dreifaches: daß der Katholizismus
im Gegensatz zu dem sich auflösenden Protestantis-
mus das Prinzip der Einheit und der Autorität
verkörpere, daß er gegenüber dem Rationalismus
und dem Illuminismus im Wachsen bleibe, und
daß ihm inmitten der sich ausbreitenden religiösen
Anarchie und Indifferenz die Zukunft gehöre.
Schneller, als Tocqueville erwartet, sollte als-
bald nach der Rückkehr aus Nordamerika die
Entscheidung über seine äußere Lebens-
stellung fallen. G. de Beaumonts Weigerung,
in dem Schmutzprozeß Feucheres-Bourbon die
Stellungnahme der Versailler Staatsanwaltschaft
zu vertreten (Mai 1833), führte zu dessen Ent-
lassung und 21. Mai 1833 zu Tocquevilles frei-
willigem Rücktritt von seinem Amt und vom
Staatsdienst. Von der wiedergewonnenen Freiheit
machte er sofort Gebrauch in der großes Aufsehen
erregenden Verteidigung seines legitimistischen
Freundes, des bretonischen Marineoffiziers de Ker-
golay, der in die der Landung der Herzogin von
Berry folgenden Unruhen verwickelt war, zog sich
dann aber zu mehrjährigem Stillleben, zuerst
in Paris, dann auf dem Stammschloß Tocqueville
zurück. Was er dort in rastlosem Fleiß arbeitete,
wußten nur seine Freunde. Die innere Lebens-
verbindung der damals herrschenden liberalen
Ideen und des religiösen Glaubens, der Autori-
tät und der Gleichheit, der Ordnung und des
Fortschritts, also das uralte und doch immer neue
Problem von der besten Staats= und Sozial-
ordnung, welches die Julirevolution mit ihren
unerhörlen und schnellen Siegen aufs neue vor
der erstaunten Welt entrollt hatte, war Gegenstand
seiner Forschung, deren Ergebnisse er nun (1836)
in seinem ersten Hauptwerk De la Demo-
cratie en Amérique der Offentlichkeit unter-