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breitete. Daß es sich unter der amerikanischen
Folie in erster Linie um die Kritik europäischer,
zumal französischer Gesellschaftszustände
handle, darüber ließ Tocqueville ebensowenig einen
Zweifel wie über den Zweck seiner Arbeit. „Mein
Buch“, erklärt er, „ist kein Gemälde, sondern ein
Spiegel“, und dieser Spiegel sollte einem zwei-
fachen Zweck dienen, er sollte „den Eifer derjenigen
dämpfen, welche die Demokratie als etwas Glän-
zendes und Leichtes sich vorstellen, wie auch den
Schrecken derer mindern, welche in ihr nur etwas
Bedrohliches und Unbrauchbares sehen“. Für die
Beurteilung des von ihm aufgestellten Inventars
der alten und neuen Gesellschaft verlange er nichts
als reifliche Prüfung; jede Parteistellung lehne er
seinerseits ab. Für die heutige Gesellschaft und
ihre Zukunft, die man nicht nach den Ideen des
alten Gesellschaftszustandes beurteilen darf, bleibt
nur ein Weg: der der Demokratie; gegen ihre
Gefahren nur eine Rettung: die Religion. In der
Tocquevilleschen Deutung dieser beiden Grund-
ideen, nicht in dem oft geänderten und von be-
rufenster Seite richtig gestellten Detail des Buches,
ruht dessen Bedeutung.
Die Demokratie, wie Tocqueville sie defi-
niert und behandelt, schließt nicht diese oder jene
exklusive Regierungs= oder Staatsform in sich;
für ihn ist „Demokratie“ gleichbedeutend mit
Gleichheit, politischer, bürgerlicher, sozialer
Gleichheit aller Volksklassen eines Landes. Die
Demokratie sollte nur eine Klasse aus ihnen bilden.
Regierungsformen sind sekundäre Erscheinungen;
für seine Person zieht Tocqueville der amerikani-
schen Republik die französische Erbmonarchie vor.
über die entscheidende Idee der sozialen Gleichheit,
die für ihn das Wesen der Demokratie ausmacht,
dogmatisiert Tocqueville nicht wie J. J. Rousseau;
seine eminente Geisteskraft bleibt auf den Erweis
der einen Tatsache gerichtet, die sich ihm als
unabweisbares Resultat aus der bisherigen Ge-
schichtsentwicklung, zumal seit 1789 ergibt: der
Sozialzustand der modernen Welt drängt unauf-
haltsam zum Sieg der Demokratie, ein Zustand,
den er konstatieren will, ohne ihn zumal für Frank-
reich als einen glücklichen anzusehen. So wenig
verkennt Tocqueville die Gefahren dieser für ihn
unvermeidlichen Gesellschaftsentwicklung, und so
oft erhebt er sich mit scharfen Worten gegen das
Gleichheitsregiment, daß er (im Vorwort) sich
entschuldigt, er sei kein Gegner der Demokratie,
aber er schulde ihr volle Aufrichtigkeit. Nur eine
spezielle Macht könne noch die drohende Gefahr
beschwören, die immer ungestümer vordrängende
Bewegung eindämmen, leiten, veredeln: die Re-
ligion. Im allgemeinen sei sie notwendig für
jedes im Gesellschaftszustand lebende Individuum,
mehr noch für jeden von der Demokratie emanzi-
pierten Menschen; der Mensch, ein Wesen der
Hoffnung, weil der Unsterblichkeit, sei für den
Glauben geschaffen. „Der Unglaube ist nur etwas
Zufälliges, Verschwindendes, der Glaube allein
Tocqueville.
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das Bleibende.“ Darum sei die geoffenbarte Re-
ligion nokwendig; sie allein biete für alle Pri-
mordialfragen des Seins und Lebens eine klare,
genaue, gemeinverständliche Antwort. Die Al-
lianz der Demokratie mit der Religion garantiere
allein eine geordnete Gesellschaftsentwicklung; an
die Stelle der zerstörten Religion treten bei der
Menge brutale Instinkte, bei höheren Intelligenzen
der Zweifel, der Unglaube, ein chaotisches Meinen,
welches die Seelen entnerve und mit ihnen die
Willen, die, unfrei geworden, der Knechtung an-
heimfallen.
Man erklärt sich heute nur schwer die Erfolge
und die Tiefe der Bewegung, welche Tocquevilles
Démocratie in den leitenden politischen Kreisen
hervorrief, ganz gegen sein und seiner nächsten
Umgebung Erwarten. „Seit Montesquien“,
rief Royer-Collard, das Haupt der Doktrinäre,
„ist Derartiges nicht erschienen.“ Man stand
noch in der ersten Blüte des Juliliberalismus,
der mächtig aufstrebenden kirchlichen Bewegung,
dem Zauber der Lamennaisschen Ideen, einer in
liberalen Kreisen unbekannten, genialen Theorie
und Sprache gegenüber. Schon nach dem Er-
scheinen der beiden ersten Bände der Démocratie
(1836) erkannte die Akademie ihr den erhöhten
Montyonpreis als dem „den Sitten nützlichsten
Werk“ zu. Ein kurzer Aufenthalt in England,
wohin Lord Landsdowne Tocqueville als Gut-
achter über die beste Form der Wahlen vor das
große Parlamentskomitee geladen, brachte ihm
dieselben Huldigungen und die Freundschaft der
ersten Politiker des Landes (Stuart Mill, Nassau-
Senior, Lord Radnor u. a.), die fortan nicht mehr
aus seiner Korrespondenz verschwinden. Auch in
Frankreich blieb trotz aller legitimistischen Abwehr
sein Ansehen im Steigen, nun auch in den katho-
lischen Kreisen, wo die Lamennaissche Universal-
demokratie noch umging. 1838 wurde Tocque-
ville Mitglied der Akademie der politischen und
moralischen Wissenschaften, schon 1841 (nach dem
Erscheinen des dritten Bandes der Démocratie)
Mitglied der französischen Akademie.
Auch die anhebende Kritik (Sainte-Beuve) ver-
mochte nicht die Zahl der Huldigungen zu min-
dern; in ihnen gefiel sich der öffentliche Geist als
einer Art Selbstvergötterung und Selbstrechtfer-
tigung, während Tocqueville selbst der anspruchs-
lose, bescheidene Mann blieb, bei dem in der mehr
und mehr eintretenden Ruhe große Bedenken an
der Richtigkeit seiner Ideen sich einstellten, die in
Verbindung mit der wiedererwachten Skepsis und
dem quälenden Zweifel an der religiösen wie po-
litischen und sozialen Wahrheit ihn von seinen
Studien ablenkten und endlich zum Rücktritt
ins öffentliche Leber bestimmten. Es war
ein Entschluß von großer Tragweite für die Weiter-
bildung seiner Anschauungen, als er bald darauf
das Anerbieten der Wähler für Valognes an-
nahm, entschlossen, unter allen Umständen die Frei-
heit seiner politischen Uberzeugungen zu wahren.