Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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breitete. Daß es sich unter der amerikanischen 
Folie in erster Linie um die Kritik europäischer, 
zumal französischer Gesellschaftszustände 
handle, darüber ließ Tocqueville ebensowenig einen 
Zweifel wie über den Zweck seiner Arbeit. „Mein 
Buch“, erklärt er, „ist kein Gemälde, sondern ein 
Spiegel“, und dieser Spiegel sollte einem zwei- 
fachen Zweck dienen, er sollte „den Eifer derjenigen 
dämpfen, welche die Demokratie als etwas Glän- 
zendes und Leichtes sich vorstellen, wie auch den 
Schrecken derer mindern, welche in ihr nur etwas 
Bedrohliches und Unbrauchbares sehen“. Für die 
Beurteilung des von ihm aufgestellten Inventars 
der alten und neuen Gesellschaft verlange er nichts 
als reifliche Prüfung; jede Parteistellung lehne er 
seinerseits ab. Für die heutige Gesellschaft und 
ihre Zukunft, die man nicht nach den Ideen des 
alten Gesellschaftszustandes beurteilen darf, bleibt 
nur ein Weg: der der Demokratie; gegen ihre 
Gefahren nur eine Rettung: die Religion. In der 
Tocquevilleschen Deutung dieser beiden Grund- 
ideen, nicht in dem oft geänderten und von be- 
rufenster Seite richtig gestellten Detail des Buches, 
ruht dessen Bedeutung. 
Die Demokratie, wie Tocqueville sie defi- 
niert und behandelt, schließt nicht diese oder jene 
exklusive Regierungs= oder Staatsform in sich; 
für ihn ist „Demokratie“ gleichbedeutend mit 
Gleichheit, politischer, bürgerlicher, sozialer 
Gleichheit aller Volksklassen eines Landes. Die 
Demokratie sollte nur eine Klasse aus ihnen bilden. 
Regierungsformen sind sekundäre Erscheinungen; 
für seine Person zieht Tocqueville der amerikani- 
schen Republik die französische Erbmonarchie vor. 
über die entscheidende Idee der sozialen Gleichheit, 
die für ihn das Wesen der Demokratie ausmacht, 
dogmatisiert Tocqueville nicht wie J. J. Rousseau; 
seine eminente Geisteskraft bleibt auf den Erweis 
der einen Tatsache gerichtet, die sich ihm als 
unabweisbares Resultat aus der bisherigen Ge- 
schichtsentwicklung, zumal seit 1789 ergibt: der 
Sozialzustand der modernen Welt drängt unauf- 
haltsam zum Sieg der Demokratie, ein Zustand, 
den er konstatieren will, ohne ihn zumal für Frank- 
reich als einen glücklichen anzusehen. So wenig 
verkennt Tocqueville die Gefahren dieser für ihn 
unvermeidlichen Gesellschaftsentwicklung, und so 
oft erhebt er sich mit scharfen Worten gegen das 
Gleichheitsregiment, daß er (im Vorwort) sich 
entschuldigt, er sei kein Gegner der Demokratie, 
aber er schulde ihr volle Aufrichtigkeit. Nur eine 
spezielle Macht könne noch die drohende Gefahr 
beschwören, die immer ungestümer vordrängende 
Bewegung eindämmen, leiten, veredeln: die Re- 
ligion. Im allgemeinen sei sie notwendig für 
jedes im Gesellschaftszustand lebende Individuum, 
mehr noch für jeden von der Demokratie emanzi- 
pierten Menschen; der Mensch, ein Wesen der 
Hoffnung, weil der Unsterblichkeit, sei für den 
Glauben geschaffen. „Der Unglaube ist nur etwas 
Zufälliges, Verschwindendes, der Glaube allein 
Tocqueville. 
  
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das Bleibende.“ Darum sei die geoffenbarte Re- 
ligion nokwendig; sie allein biete für alle Pri- 
mordialfragen des Seins und Lebens eine klare, 
genaue, gemeinverständliche Antwort. Die Al- 
lianz der Demokratie mit der Religion garantiere 
allein eine geordnete Gesellschaftsentwicklung; an 
die Stelle der zerstörten Religion treten bei der 
Menge brutale Instinkte, bei höheren Intelligenzen 
der Zweifel, der Unglaube, ein chaotisches Meinen, 
welches die Seelen entnerve und mit ihnen die 
Willen, die, unfrei geworden, der Knechtung an- 
heimfallen. 
Man erklärt sich heute nur schwer die Erfolge 
und die Tiefe der Bewegung, welche Tocquevilles 
Démocratie in den leitenden politischen Kreisen 
hervorrief, ganz gegen sein und seiner nächsten 
Umgebung Erwarten. „Seit Montesquien“, 
rief Royer-Collard, das Haupt der Doktrinäre, 
„ist Derartiges nicht erschienen.“ Man stand 
noch in der ersten Blüte des Juliliberalismus, 
der mächtig aufstrebenden kirchlichen Bewegung, 
dem Zauber der Lamennaisschen Ideen, einer in 
liberalen Kreisen unbekannten, genialen Theorie 
und Sprache gegenüber. Schon nach dem Er- 
scheinen der beiden ersten Bände der Démocratie 
(1836) erkannte die Akademie ihr den erhöhten 
Montyonpreis als dem „den Sitten nützlichsten 
Werk“ zu. Ein kurzer Aufenthalt in England, 
wohin Lord Landsdowne Tocqueville als Gut- 
achter über die beste Form der Wahlen vor das 
große Parlamentskomitee geladen, brachte ihm 
dieselben Huldigungen und die Freundschaft der 
ersten Politiker des Landes (Stuart Mill, Nassau- 
Senior, Lord Radnor u. a.), die fortan nicht mehr 
aus seiner Korrespondenz verschwinden. Auch in 
Frankreich blieb trotz aller legitimistischen Abwehr 
sein Ansehen im Steigen, nun auch in den katho- 
lischen Kreisen, wo die Lamennaissche Universal- 
demokratie noch umging. 1838 wurde Tocque- 
ville Mitglied der Akademie der politischen und 
moralischen Wissenschaften, schon 1841 (nach dem 
Erscheinen des dritten Bandes der Démocratie) 
Mitglied der französischen Akademie. 
Auch die anhebende Kritik (Sainte-Beuve) ver- 
mochte nicht die Zahl der Huldigungen zu min- 
dern; in ihnen gefiel sich der öffentliche Geist als 
einer Art Selbstvergötterung und Selbstrechtfer- 
tigung, während Tocqueville selbst der anspruchs- 
lose, bescheidene Mann blieb, bei dem in der mehr 
und mehr eintretenden Ruhe große Bedenken an 
der Richtigkeit seiner Ideen sich einstellten, die in 
Verbindung mit der wiedererwachten Skepsis und 
dem quälenden Zweifel an der religiösen wie po- 
litischen und sozialen Wahrheit ihn von seinen 
Studien ablenkten und endlich zum Rücktritt 
ins öffentliche Leber bestimmten. Es war 
ein Entschluß von großer Tragweite für die Weiter- 
bildung seiner Anschauungen, als er bald darauf 
das Anerbieten der Wähler für Valognes an- 
nahm, entschlossen, unter allen Umständen die Frei- 
heit seiner politischen Uberzeugungen zu wahren.
	        
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