475
Er zögerte keinen Augenblick, denselben Nachdruck
zu geben, als er erfuhr, der Ministerpräsident,
Graf Molé, habe seine Wahl regierungsseitig
empfohlen; er lehnte jetzt die Wahl entschieden ab.
Erst bei der freien Neuwahl nach der Kammer-=
auflösung 1839 nahm er das Mandat für Va-
lognes an, und damit begann für ihn eine zehn-
jährige Schule praktischer Politik, in der für ihn
gegenüber dem parlamentarischen Schaukelsystem
Thiers-Guizot und der Opportunitätsklugheit
Louis Philipps nur eine seinem ausgesprochenen
Unabhängigkeitssinn mögliche Stellung blieb:
gänzliche Isoliertheit. Weniger durch den Glanz
der parlamentarischen Rede als durch staats-
männische Autorität, hingebende Arbeit und hohe
politische Denkkraft hat er sein Ziel verfolgt, Frank-
reich vor den Exzessen des liberalen Demokratis-
mus zu bewahren: dem Sturz der Monarchie, den
er voraussah und ankündigte, und dem Unter-
gang der zweiten Republik, den er mannhaft, aber
vergeblich zu vereiteln suchte.
Als Parlamentarier nahm er sofort
(bereits 2. Juli 1839) angesichts der syro-ägyp-
tischen Verwicklung in der Bewilligung des Ma-
rinekredits diese Stellung ein mit dem Hinweis
auf die nationale Ehre und die Monarchie, die in
sich wenig Halt habe. Im selben Jahr vertrat er
den Kommissionsbericht über die Abschaffung der
Sklaverei in den französischen Kolonien. Die Be-
richterstattung über die Reform des Gefängnis-
wesens beschäftigte ihn bis 1843, wo seine Vor-
schläge durchdrangen. 1840 erhob er sich für die
Unvereinbarkeit öffentlicher Amter mit der Stellung
eines Deputierten. In der großen Adreßdebatte
1842 erhob er gegen das Ministerium Guizot die
Anklage, es trage die Schuld an der steigenden
Demoralisation im Land und in der Kammer.
In den Unterrichtsdebatten verlangte er immer
wieder die Freiheit alles Unterrichts gegen das
Staatsmonopol und im Interesse der Versöhnung
des religiösen Geistes mit den liberalen Institu-
tionen. 1841 hatte er sich nach Algier zum Stu-
dium der Kolonialfragen begeben, 1844/45 war
er dorthin zurückgekehrt, und als Anfang Juni
1845 die Regierung einen außerordentlichen Kredit
für Algier verlangte, unterzog er die bisherige
Kolonialverwaltung einer vernichtenden Kritik im
Hinblick auf die Uberlegenheit der christlichen, von
der Regierung vernachlässigten Zivilisation gegen
„die blutdürstige und unsittliche Korankultur“.
Am 27. Jan. 1848 machte er in der Adreßdebatte
einen letzten Versuch, den Ausbruch der Revolution
gegenüber der unheilvollen Verblendung der Re-
gierung als unvermeidlich hinzustellen. Der Aus-
bruch der Februarrevolte erschütterte ihn tief. Die
Straßenschlachten des Juni machten ihn unglück-
lich. Sein Mut war aber nicht gebrochen. Mit
eminentem Scharfblick hatte er sofort erkannt, daß
zwischen der drohenden Anarchie und dem dann
unausbleiblichen Despotismus nur die verfassungs-
mäßige Republik noch einen Ausweg biete.
Tocqueville.
Für
476
die Rettung von Ordnung und Freiheit unter ihr
setzte er nochmals seine ganze Kraft ein. In der
Constituante ließ er sich in die Verfassungs-
kommission wählen. In der Diskussion über das
„Recht auf Arbeit“ protestierte er gegen jede Ge-
meinschaft zwischen Sozialismus und Demokratie:
die Demokratie gebe dem Individuum den höchst-
möglichen Wert durch die Freiheit, für den
Sozialismus sei das Individuum nur eine Ziffer,
ein Werkzeug der Despotie und der Unfreiheit.
Er kämpfte für die Einführung des Zweikammer-
systems, für die indirekte Wahl des Präsidenten
durch Wahlmänner nach nordamerikanischem
Muster; in der auswärtigen Politik trat er ent-
schlossen an die Seite des Generals Cavaignac.
Am 2. Juni 1849 berief ihn der neue Präsident
Louis Napoleon mit Dufaure und Languinais in
das Ministerium Odilon Barrot; Tocqueville
ernannte alsbald zu seinem Kabinettschef seinen
Freund, den Grafen Gobineau.
Als Minister des Auswärtigen be-
zeichnete Tocqueville die Sicherung des Welt-
friedens als das dringendste Bedürfnis der Lage
(an Lord Radnor, 7. Juni 1849), für ihn eine
Gewissens= und Ehrensache. In der Zirkular-
depesche vom 6. Juni betreffend die römische Frage
gab er als den maßgebenden Gesichtspunkt für die
von Cavaignac unternommene und von Louis
Napoleon durchgeführte römische Expedition an:
die Aufrechterhaltung des französischen Einflusses
in Italien, die Unabhängigkeit des Papsttums
gegenüber der Revolution, die Beseitigung der
Mißstände im Kirchenstaat und die Einführung
liberaler Institutionen. Als der Brief des Präsi-
denten an Edgar Ney (18. April 1849) ihm dessen
Doppelspiel in der römischen Frage enthüllte, er-
kannte Tocqueville die Unhaltbarkeit seiner Stel-
lung. Nach der Präsidentenbotschaft vom 31. Okt.,
welche die Republik im Sinn Tocquevilles preis-
gab, nahm er trotz entgegenkommender Haltung
Nopoleons sofort seine Entlassung und trat in die
Kammer zurück, um zu retten, was zu retten war.
Das Vertrauen kam ihm entgegen. Als die stei-
gende Spannung zwischen dem Präsidenten und
der Nationalversammlung seit Ende 1850 zu
einer großen Petitionsbewegung im ganzen Land,
dann (Mitte 1851) zu einem Antrag von 223
Deputierten auf Verfassungsrevision im Sinn
Tocquevilles geführt hatte, mußte er Paris wegen
eines schweren Lungenleidens mit dem Süden
vertauschen. Von Sorrent aus, wo er den Winter
verbrachte, verfolgte er mit höchster Befürchtung
alle Phasen dieses letzten Rettungsversuchs der
Republik, „durchdrungen“, wie er sagte, „von der
Überzeugung, bei der Diskussion dieses Antrags
würden die Würfel fallen“. Trotz des Abmahnens
seiner Freunde eilte er im April 1851 nach Paris
zurück und wurde alsbald zum Mitglied und zum
Berichterstatter der Revisionskommission gewählt.
Am 8. Juli 1851 begründete er im Namen der
Majorität die Notwendigkeit der Revision mit dem