Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Er zögerte keinen Augenblick, denselben Nachdruck 
zu geben, als er erfuhr, der Ministerpräsident, 
Graf Molé, habe seine Wahl regierungsseitig 
empfohlen; er lehnte jetzt die Wahl entschieden ab. 
Erst bei der freien Neuwahl nach der Kammer-= 
auflösung 1839 nahm er das Mandat für Va- 
lognes an, und damit begann für ihn eine zehn- 
jährige Schule praktischer Politik, in der für ihn 
gegenüber dem parlamentarischen Schaukelsystem 
Thiers-Guizot und der Opportunitätsklugheit 
Louis Philipps nur eine seinem ausgesprochenen 
Unabhängigkeitssinn mögliche Stellung blieb: 
gänzliche Isoliertheit. Weniger durch den Glanz 
der parlamentarischen Rede als durch staats- 
männische Autorität, hingebende Arbeit und hohe 
politische Denkkraft hat er sein Ziel verfolgt, Frank- 
reich vor den Exzessen des liberalen Demokratis- 
mus zu bewahren: dem Sturz der Monarchie, den 
er voraussah und ankündigte, und dem Unter- 
gang der zweiten Republik, den er mannhaft, aber 
vergeblich zu vereiteln suchte. 
Als Parlamentarier nahm er sofort 
(bereits 2. Juli 1839) angesichts der syro-ägyp- 
tischen Verwicklung in der Bewilligung des Ma- 
rinekredits diese Stellung ein mit dem Hinweis 
auf die nationale Ehre und die Monarchie, die in 
sich wenig Halt habe. Im selben Jahr vertrat er 
den Kommissionsbericht über die Abschaffung der 
Sklaverei in den französischen Kolonien. Die Be- 
richterstattung über die Reform des Gefängnis- 
wesens beschäftigte ihn bis 1843, wo seine Vor- 
schläge durchdrangen. 1840 erhob er sich für die 
Unvereinbarkeit öffentlicher Amter mit der Stellung 
eines Deputierten. In der großen Adreßdebatte 
1842 erhob er gegen das Ministerium Guizot die 
Anklage, es trage die Schuld an der steigenden 
Demoralisation im Land und in der Kammer. 
In den Unterrichtsdebatten verlangte er immer 
wieder die Freiheit alles Unterrichts gegen das 
Staatsmonopol und im Interesse der Versöhnung 
des religiösen Geistes mit den liberalen Institu- 
tionen. 1841 hatte er sich nach Algier zum Stu- 
dium der Kolonialfragen begeben, 1844/45 war 
er dorthin zurückgekehrt, und als Anfang Juni 
1845 die Regierung einen außerordentlichen Kredit 
für Algier verlangte, unterzog er die bisherige 
Kolonialverwaltung einer vernichtenden Kritik im 
Hinblick auf die Uberlegenheit der christlichen, von 
der Regierung vernachlässigten Zivilisation gegen 
„die blutdürstige und unsittliche Korankultur“. 
Am 27. Jan. 1848 machte er in der Adreßdebatte 
einen letzten Versuch, den Ausbruch der Revolution 
gegenüber der unheilvollen Verblendung der Re- 
gierung als unvermeidlich hinzustellen. Der Aus- 
bruch der Februarrevolte erschütterte ihn tief. Die 
Straßenschlachten des Juni machten ihn unglück- 
lich. Sein Mut war aber nicht gebrochen. Mit 
eminentem Scharfblick hatte er sofort erkannt, daß 
zwischen der drohenden Anarchie und dem dann 
unausbleiblichen Despotismus nur die verfassungs- 
mäßige Republik noch einen Ausweg biete. 
Tocqueville. 
  
Für 
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die Rettung von Ordnung und Freiheit unter ihr 
setzte er nochmals seine ganze Kraft ein. In der 
Constituante ließ er sich in die Verfassungs- 
kommission wählen. In der Diskussion über das 
„Recht auf Arbeit“ protestierte er gegen jede Ge- 
meinschaft zwischen Sozialismus und Demokratie: 
die Demokratie gebe dem Individuum den höchst- 
möglichen Wert durch die Freiheit, für den 
Sozialismus sei das Individuum nur eine Ziffer, 
ein Werkzeug der Despotie und der Unfreiheit. 
Er kämpfte für die Einführung des Zweikammer- 
systems, für die indirekte Wahl des Präsidenten 
durch Wahlmänner nach nordamerikanischem 
Muster; in der auswärtigen Politik trat er ent- 
schlossen an die Seite des Generals Cavaignac. 
Am 2. Juni 1849 berief ihn der neue Präsident 
Louis Napoleon mit Dufaure und Languinais in 
das Ministerium Odilon Barrot; Tocqueville 
ernannte alsbald zu seinem Kabinettschef seinen 
Freund, den Grafen Gobineau. 
Als Minister des Auswärtigen be- 
zeichnete Tocqueville die Sicherung des Welt- 
friedens als das dringendste Bedürfnis der Lage 
(an Lord Radnor, 7. Juni 1849), für ihn eine 
Gewissens= und Ehrensache. In der Zirkular- 
depesche vom 6. Juni betreffend die römische Frage 
gab er als den maßgebenden Gesichtspunkt für die 
von Cavaignac unternommene und von Louis 
Napoleon durchgeführte römische Expedition an: 
die Aufrechterhaltung des französischen Einflusses 
in Italien, die Unabhängigkeit des Papsttums 
gegenüber der Revolution, die Beseitigung der 
Mißstände im Kirchenstaat und die Einführung 
liberaler Institutionen. Als der Brief des Präsi- 
denten an Edgar Ney (18. April 1849) ihm dessen 
Doppelspiel in der römischen Frage enthüllte, er- 
kannte Tocqueville die Unhaltbarkeit seiner Stel- 
lung. Nach der Präsidentenbotschaft vom 31. Okt., 
welche die Republik im Sinn Tocquevilles preis- 
gab, nahm er trotz entgegenkommender Haltung 
Nopoleons sofort seine Entlassung und trat in die 
Kammer zurück, um zu retten, was zu retten war. 
Das Vertrauen kam ihm entgegen. Als die stei- 
gende Spannung zwischen dem Präsidenten und 
der Nationalversammlung seit Ende 1850 zu 
einer großen Petitionsbewegung im ganzen Land, 
dann (Mitte 1851) zu einem Antrag von 223 
Deputierten auf Verfassungsrevision im Sinn 
Tocquevilles geführt hatte, mußte er Paris wegen 
eines schweren Lungenleidens mit dem Süden 
vertauschen. Von Sorrent aus, wo er den Winter 
verbrachte, verfolgte er mit höchster Befürchtung 
alle Phasen dieses letzten Rettungsversuchs der 
Republik, „durchdrungen“, wie er sagte, „von der 
Überzeugung, bei der Diskussion dieses Antrags 
würden die Würfel fallen“. Trotz des Abmahnens 
seiner Freunde eilte er im April 1851 nach Paris 
zurück und wurde alsbald zum Mitglied und zum 
Berichterstatter der Revisionskommission gewählt. 
Am 8. Juli 1851 begründete er im Namen der 
Majorität die Notwendigkeit der Revision mit dem
	        
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