481
an die Demokratie aufblühen. In erster Hinsicht
meinte Tocqueville eine engere Verbindung zwi-
schen Religion und Demokratie herstellen zu können
durch Einschränkung des religiösen Lebens auf ein
Minimum in Glaubenssätzen, Moralvorschriften
und Kulthandlungen, dann durch deren Anbeque=
mung an die liberalen Lebensanschauungen und
Gewohnheiten, endlich durch die offene Unter-
stützung der liberalen Politik, zumal in der Reg-
lung des Verhältnisses von Kirche und Staat.
Was Tocqueville fehlt, ist der klare Begriff der
Kirche und des in ihr fortlebenden, wesentlich
übernatürlichen Lebensgrundes aller Religion.
Von dem alle übernatürliche wie natürliche Reli-
gion untrennbar in sich schließenden Symbol:
Gott, Jesus Christus, Kirche, nahm Tocqueville
das erste an, das zweite kürzte er, das dritte gab
er preis. Daher die Irrgänge seines religiösen
Skeptizismus, daher auch bei aller Hoheit seiner
Aspirationen der unfertige Charakter seiner Ideen
und Arbeiten. .
Wenn Tocqueville trotzdem eine so hohe Stel-
lungin der Sozialforschung unserer Zeit
sich errungen hat und mit Recht behauptet, so liegt
dies in der vierfachen Grundtendenz seines wissen-
schaftlichen wie praktischen Arbeitens: die zeit-
genössische Politik auf ihren wahren Lebensgrund,
die Sozialpolitik, zu stellen, ihr Ziel in der Ver-
wirklichung der sozialen Gleichheit aller Volks-
klassen als eine Forderung historischer Notwendig-
keit, als das Gesetz des sozialen Fortschritts der
Neuzeit zu erweisen, auf die unabsehbaren Ge-
fahren dieser Evolution im Hinblick auf die Pflicht-
vergessenheit der besitzenden und regierenden Klassen
aufmerksam zu machen und als Grundbedingung
für ihr Gelingen die Hilfe der Religion aufzu-
rufen. Heute, wo die volle Evolution der Demo-
kratie in der nach Tocquevilles Tod erst sich
erhebenden und organisierenden internationalen
sozialistischen Demmokratie uns vor Augen steht,
läßt sich die Bedeutung seiner Forschung dahin
präzisieren, daß die tatsächliche Gesellschafts-
entwicklung seit 1789 und 1831 von ihm besser
und richtiger erkannt wurde als von irgend einem
seiner Zeitgenossen, daß aber ihre prinzipielle
Würdigung zu spät, erst nach der Februarrevo-
lution, und zu unvollständig infolge der liberal-
skeptizistischen Anschauungen sich zur Geltung
bringen konnte.
Der Grundfehler seiner Geschichts-
theorie besteht darin, daß er in der Revolution
von 1789 nur die Beseitigung des ancien ré-
gime und der Aristokratie durch die Bourgeoisie
und die mit ihr verbündete Demokratie sah, wäh-
rend sie im Grund durch ihren antireligiösen und
antikirchlichen Charakter der Umsturz der christ-
lichen Gesellschaftsordnung schlechthin war und
in ihrer Erneuerung durch die Revolutionen von
1831 und 1848, durch ihre Verkörperung im
zeitgenössischen Liberalismus bis heute geblieben
ist. Den Kampf sah Tocaqueville voraus, sein
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Tocqueville.
482
Ziel nicht. Was ihn insbesondere an letzterem
hinderte, war seine einseitige Auffassung der grund-
legenden Begriffe: Aristokratie, Bourgeoisie, De-
mokratie; sie waren ihm lediglich politische
Faktoren in der Gesellschaftsgeschichte, und sie sind
doch ihrem Wesen nach nur soziale Kräfte und
Strebungen, naturgemäß auf die Überlegenheit
der Dienste, des Eigentums, des Handels und
Verkehrs usw. sich stützende Sozialbildungen, die
sich harmonisch der einheitlichen, das allgemeine
Volkswohl vertretenden Staatsgewalt unterzu-
ordnen haben. Tocquevilles Geschichtstheorie ver-
wechselt die verschiedenartigen staatsrechtlichen Be-
griffe von Demokratie und Volk. Die De-
mokratie ist ihm vorwiegend eine Regierungs= und
Staatsform; aber das ist weder bei ihr noch bei
der Aristokratie und Bourgeeisie sozial begründet.
Das Volk, d. i. der Inbegriff aller derer aus
höheren oder niederen Ständen, welche durch ihre
Lebensarbeit in der materiellen und sittlichen
Ordnung dem Gemeinwohl durch wesentliche,
unersetzliche Arbeiten dienen, hat unbeschadet an-
derer Rechte, wie sie auf Geburt, Stellung, so-
ziale Bedeutung und Autorität sich gründen, ein
volles Recht auf die Achtung, die Vertretung und
den Schutz seiner Lebensinteressen, aber nicht, wie
die absolute Demokratie will, das Recht auf die
Regierung. Was das Volk verlangt, ist Schutz,
Fürsorge und Garantien für seine höchsten, ein-
zigen, sozialen Güter, die sozialen Freiheiten der
Person, des Gewissens und des Eigentums. Die
extreme Demokratie fordert die Herrschaft über
den ganzen sozialen Körper, die politische Gewalt
über alle Sozialbildungen; dadurch kommt sie in
Konflikt mit den echten Volksfreiheiten im christ-
lichen Sinn, in Widerspruch mit den wahren
Begriffen von Freiheit und Menschenwürde letztere
sind die Schöpfungen der christlichen Kirche, die
das Volk erst religiös, dann sozial, endlich poli-
tisch in naturgemäßem sozialen Entwicklungsgang
zu einer Höhe und Bedeutung im Gesellschafts-
organismus erhoben hat, die ihm nur aus seiner
Christianisierung durch die Kirche in Verbindung
mit den übrigen dazu berechtigten Gesellschafts-
faktoren wieder erstehen wird. (Vgl. auch d. Art.
Demokratie Bd I, speziell Sp. 1198 ff.)
Literatur. Die angeführten Schriften T.S
sind sämtlich in den Cuvres completes, Nouvelle
édit. (9 Bde, Par. 1860/65) enthalten, darunter
De la Démocratie en Amérique, 3 Bde (letztere
auch in 16. Aufl. 1866); L'Ancien Régime et la
Révolution (1 Bd); Euvres et Correspondance
inédites (2 Bde); Nouvelle correspondance (1 Bd);
Mélanges et fragments historiques (189); Etudes
éGconomiques et politiques (1 Bd). In der Ge-
samtausgabe ist auch die von G. de Beaumont ver-
faßte Notice (Lebens= u. Entwicklungsgang) als
Introduction à la correspondance aufgenommen.
In derselben fanden sich auch die beiden bis jetzt
veröffentlichten Fragmente des 2. Bandes des An-
cien Régime, die indes keinen Aufschluß über die
Weiterführung des Gedankengangs des Verfassers
16