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man die Macht dazu hat. Im engeren Sinn ver-
sieht man darunter die hochsinnige Ertragung
eines abweichenden Religionsbekenntnisses, das
man zwar innerlich weder billigt noch gleichmütig
betrachtet, äußerlich aber auch nicht angreift, son-
dern vielmehr aus innerer Achtung vor fremder
UÜberzeugung sich ruhig gefallen läßt. Weil der
Toleranzbegriff auf die Grundsätze der staatlich-
volitischen Toleranz, welche hier in erster Linie in
Betracht kommt, nicht unwesentlich zurückwirkt, so
erscheint vorerst eine etwas genauere Begriffs-
bestimmung angezeigt.
I. Begriff der Loleranz. — 1. Duldung
und Geduld haben schon nach ihrer Wortbedeu-
tung den Zug gemeinsam, daß sich beide einem
Übel gegenüber wissen, nur daß der Sprachgebrauch
die patientia mehr auf die Erduldung der physi-
schen, die tolerantia hingegen mehr auf die Er-
tragung der ethischen ÜUbel eingeschränkt hat. Je-
voch ist die Toleranz nicht zu verwechseln mit der
Konnivenz (dissimulatio); denn während
letztere aus bloß pädagogischen Rücksichten gewisse
ethische Mißstände gerade darum übersieht, um
nicht einschreiten zu müssen, blickt hingegen erstere
dem ethischen Übel unerschrocken ins Auge und
billigt ihm aus wohlerwogenen Gründen geflissent-
lich Freiheit der Bewegung und Ausbreitung zu.
Hieraus folgt, daß die Toleranz, in ihrer begriff-
lichen Abstraktheit gefaßt, zwei Begriffsstücke in
sich schließt: a) das Vorhandensein eines irgend-
wie als Ubel empfundenen Gegensatzes; b) die
absichtliche Gewährung eines bestimmten Aus-
maßes von Freiheit, vermöge deren dieser
Gegensatz sich betätigen und breit machen darf,
ohne daß das tolerierende Subjekt dagegen reagiert.
Sobald eines dieser beiden Merkmale in Wegfall
gerät, wird der Begriff der Toleranz in sich auf-
gehoben. Und in der Tat, gegenüber ethischen
Gütern, wie Wahrheit und Tugend, übt man
keine bloße Duldung, sondern kommt ihnen bil-
ligend und fördernd weit entgegen, während jede
gewaltsame Reaktion des Subjekts gegen das
Übel sofort in Intoleranz umschlägt. Auch der
Unduldsame empfindet den vorhandenen Gegensatz
als unliebsames ÜUbel; aber indem er den Gegen-
satz bekämpft, hört er eben auf, gegenüber dem-
selben Toleranz walten zu lassen. Wahre Duld-
samkeit am rechten Ort und unter den rechten
Bedingungen ist, wie die Geduld, eine der schwie-
rigsten, aber auch schönsten und zartesten Tugen-
den, in deren Besitz sich die wahre Seelengröße
eines edeln Menschen widerspiegelt. Ist sie doch
im Grund nichts anderes als ein überspringender
Funke aus dem liebesprühenden Herzen Gottes,
der in unendlicher Nachsicht die vielen ethischen
Weltübel ebenfalls duldet und das Unkraut zu-
sammen mit dem Weizen wachsen läßt. — Gleich-
wohl ist nicht jedwede Toleranz eine Tugend,
noch jedwede Intoleranz ein Laster. Wenn nach
Aristoteles die wahre Tugend stets die Mitte
zwischen zwei Gegensätzen einnimmt, die in ihrer
Toleranz.
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Eigenschaft als Extreme beide zu Untugenden
werden, so kann auch eine zu weitgehende Toleranz
leicht zur Untugend werden. So kann bei Eltern
die rücksichtslose Duldung der Fehler ihrer Kinder
in sündhafte Schwäche ausarten, wie anderseits
die barbarische Züchtigung wirklicher Sünden,
obschon eine an sich berechtigte, aber auf die Spitze
getriebene Intoleranz, unter Umständen den
rächenden Strafarm des Staatsanwalts heraus-
fordert. Was insbesondere die Toleranz in Re-
ligionssachen betrifft, so ist sorgsam zu unter-
scheiden zwischen Sache und Person, Irrtum und
Irrendem. Intoleranz in der Sache bedeutet hier
noch lange nicht Intoleranz gegen die Person;
denn die liebevollste Duldsamkeit, ja persönliche
Freundschaft gegen den Irrenden kann sich ver-
binden mit der entschiedensten Zurückweisung des
Irrtums, dem er huldigt. Auf dieser wichtigen
Unterscheidung beruht die Einteilung in die theo-
retisch-dogmatische und die praktisch-bürgerliche
Toleranz.
2. Unter der theoretisch-dogmatischen
Toleranz versteht man die geflissentliche Duld=
samkeit gegen den Irrtum als solchen, insofern er
ein Irrtum ist, oder „die Willigkeit, das relative
und subjektive Existenzrecht des Irrtums anzuer-
kennen“ (Fr. Lezius, Der Toleranzbegriff Lockes
und Pufendorfs (1900] 2). Wenn es überhaupt
schon dem Naturgebot der Wahrheitsliebe ent-
spricht, dem klar erkannten Irrtum in geeigneter
Weise entgegenzutreten, statt ihn ruhig gewähren
zu lassen, so kann erst recht der Religions-=
irrtum keinen Anspruch darauf erheben, theoretisch
gleichgültig genommen zu werden, da gerade hier
auch die Rücksicht auf das ewige Seelenheil mit
in Frage kommt. Wahrheit und Tugend verhalten
sich zueinander wie Irrtum und Laster. Gleich-
wie aber das Laster als solches niemals und unter
keinen Umständen ein eigentliches Existenzrecht
besitzt, wenn schon der Lasterhafte geduldet wird,
so hat auch der Irrtum, namentlich der religiöse,
kein Recht auf Duldung, so sehr die Irrenden
selbst alle Schonung und Hochachtung verdienen.
Deshalb ist die religiöse Toleranz im obigen Sinn
als unsittlich zu verwerfen. Denn entweder ent-
springt sie aus dem Gefühl der Gleichgültigkeit
gegen die Religion, die man als wahr erkennt und
anerkennt, oder aber sie ist die Frucht jener skep-
tischen Gemütsverfassung, welche alle Religionen
für gleich wahr und gleich gut ansieht. Im ersten
Fall versündigt man sich durch Mißachtung der
Wahrheit, die ein unverjährbares Vorrecht auf
Alleinherrschaft besitzt; im zweiten huldigt man
unverblümt dem religiösen Indifferentismus, der
auf alle Fälle verwerflich ist. Wie es zwar eine
Freiheit, aber kein Recht zu sündigen gibt, so kann
man wohl von einer Fähigkeit, aber von keinem
eigentlichen Recht, in der Religion zu irren,
sprechen. Aus dem Gesagten folgt von selbst, daß
die vom Freidenkertum geforderte „Denkfreiheit"
eigentlich an einem innern Selbstwiderspruch