Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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man die Macht dazu hat. Im engeren Sinn ver- 
sieht man darunter die hochsinnige Ertragung 
eines abweichenden Religionsbekenntnisses, das 
man zwar innerlich weder billigt noch gleichmütig 
betrachtet, äußerlich aber auch nicht angreift, son- 
dern vielmehr aus innerer Achtung vor fremder 
UÜberzeugung sich ruhig gefallen läßt. Weil der 
Toleranzbegriff auf die Grundsätze der staatlich- 
volitischen Toleranz, welche hier in erster Linie in 
Betracht kommt, nicht unwesentlich zurückwirkt, so 
erscheint vorerst eine etwas genauere Begriffs- 
bestimmung angezeigt. 
I. Begriff der Loleranz. — 1. Duldung 
und Geduld haben schon nach ihrer Wortbedeu- 
tung den Zug gemeinsam, daß sich beide einem 
Übel gegenüber wissen, nur daß der Sprachgebrauch 
die patientia mehr auf die Erduldung der physi- 
schen, die tolerantia hingegen mehr auf die Er- 
tragung der ethischen ÜUbel eingeschränkt hat. Je- 
voch ist die Toleranz nicht zu verwechseln mit der 
Konnivenz (dissimulatio); denn während 
letztere aus bloß pädagogischen Rücksichten gewisse 
ethische Mißstände gerade darum übersieht, um 
nicht einschreiten zu müssen, blickt hingegen erstere 
dem ethischen Übel unerschrocken ins Auge und 
billigt ihm aus wohlerwogenen Gründen geflissent- 
lich Freiheit der Bewegung und Ausbreitung zu. 
Hieraus folgt, daß die Toleranz, in ihrer begriff- 
lichen Abstraktheit gefaßt, zwei Begriffsstücke in 
sich schließt: a) das Vorhandensein eines irgend- 
wie als Ubel empfundenen Gegensatzes; b) die 
absichtliche Gewährung eines bestimmten Aus- 
maßes von Freiheit, vermöge deren dieser 
Gegensatz sich betätigen und breit machen darf, 
ohne daß das tolerierende Subjekt dagegen reagiert. 
Sobald eines dieser beiden Merkmale in Wegfall 
gerät, wird der Begriff der Toleranz in sich auf- 
gehoben. Und in der Tat, gegenüber ethischen 
Gütern, wie Wahrheit und Tugend, übt man 
keine bloße Duldung, sondern kommt ihnen bil- 
ligend und fördernd weit entgegen, während jede 
gewaltsame Reaktion des Subjekts gegen das 
Übel sofort in Intoleranz umschlägt. Auch der 
Unduldsame empfindet den vorhandenen Gegensatz 
als unliebsames ÜUbel; aber indem er den Gegen- 
satz bekämpft, hört er eben auf, gegenüber dem- 
selben Toleranz walten zu lassen. Wahre Duld- 
samkeit am rechten Ort und unter den rechten 
Bedingungen ist, wie die Geduld, eine der schwie- 
rigsten, aber auch schönsten und zartesten Tugen- 
den, in deren Besitz sich die wahre Seelengröße 
eines edeln Menschen widerspiegelt. Ist sie doch 
im Grund nichts anderes als ein überspringender 
Funke aus dem liebesprühenden Herzen Gottes, 
der in unendlicher Nachsicht die vielen ethischen 
Weltübel ebenfalls duldet und das Unkraut zu- 
sammen mit dem Weizen wachsen läßt. — Gleich- 
wohl ist nicht jedwede Toleranz eine Tugend, 
noch jedwede Intoleranz ein Laster. Wenn nach 
Aristoteles die wahre Tugend stets die Mitte 
zwischen zwei Gegensätzen einnimmt, die in ihrer 
Toleranz. 
  
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Eigenschaft als Extreme beide zu Untugenden 
werden, so kann auch eine zu weitgehende Toleranz 
leicht zur Untugend werden. So kann bei Eltern 
die rücksichtslose Duldung der Fehler ihrer Kinder 
in sündhafte Schwäche ausarten, wie anderseits 
die barbarische Züchtigung wirklicher Sünden, 
obschon eine an sich berechtigte, aber auf die Spitze 
getriebene Intoleranz, unter Umständen den 
rächenden Strafarm des Staatsanwalts heraus- 
fordert. Was insbesondere die Toleranz in Re- 
ligionssachen betrifft, so ist sorgsam zu unter- 
scheiden zwischen Sache und Person, Irrtum und 
Irrendem. Intoleranz in der Sache bedeutet hier 
noch lange nicht Intoleranz gegen die Person; 
denn die liebevollste Duldsamkeit, ja persönliche 
Freundschaft gegen den Irrenden kann sich ver- 
binden mit der entschiedensten Zurückweisung des 
Irrtums, dem er huldigt. Auf dieser wichtigen 
Unterscheidung beruht die Einteilung in die theo- 
retisch-dogmatische und die praktisch-bürgerliche 
Toleranz. 
2. Unter der theoretisch-dogmatischen 
Toleranz versteht man die geflissentliche Duld= 
samkeit gegen den Irrtum als solchen, insofern er 
ein Irrtum ist, oder „die Willigkeit, das relative 
und subjektive Existenzrecht des Irrtums anzuer- 
kennen“ (Fr. Lezius, Der Toleranzbegriff Lockes 
und Pufendorfs (1900] 2). Wenn es überhaupt 
schon dem Naturgebot der Wahrheitsliebe ent- 
spricht, dem klar erkannten Irrtum in geeigneter 
Weise entgegenzutreten, statt ihn ruhig gewähren 
zu lassen, so kann erst recht der Religions-= 
irrtum keinen Anspruch darauf erheben, theoretisch 
gleichgültig genommen zu werden, da gerade hier 
auch die Rücksicht auf das ewige Seelenheil mit 
in Frage kommt. Wahrheit und Tugend verhalten 
sich zueinander wie Irrtum und Laster. Gleich- 
wie aber das Laster als solches niemals und unter 
keinen Umständen ein eigentliches Existenzrecht 
besitzt, wenn schon der Lasterhafte geduldet wird, 
so hat auch der Irrtum, namentlich der religiöse, 
kein Recht auf Duldung, so sehr die Irrenden 
selbst alle Schonung und Hochachtung verdienen. 
Deshalb ist die religiöse Toleranz im obigen Sinn 
als unsittlich zu verwerfen. Denn entweder ent- 
springt sie aus dem Gefühl der Gleichgültigkeit 
gegen die Religion, die man als wahr erkennt und 
anerkennt, oder aber sie ist die Frucht jener skep- 
tischen Gemütsverfassung, welche alle Religionen 
für gleich wahr und gleich gut ansieht. Im ersten 
Fall versündigt man sich durch Mißachtung der 
Wahrheit, die ein unverjährbares Vorrecht auf 
Alleinherrschaft besitzt; im zweiten huldigt man 
unverblümt dem religiösen Indifferentismus, der 
auf alle Fälle verwerflich ist. Wie es zwar eine 
Freiheit, aber kein Recht zu sündigen gibt, so kann 
man wohl von einer Fähigkeit, aber von keinem 
eigentlichen Recht, in der Religion zu irren, 
sprechen. Aus dem Gesagten folgt von selbst, daß 
die vom Freidenkertum geforderte „Denkfreiheit" 
eigentlich an einem innern Selbstwiderspruch
	        
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