Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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freiheit das Recht der Bekenntnis= und Kultus- 
freiheit, die man unter dem allgemeineren Namen 
der „Religionsfreiheit“ zusammenfaßt. So ent- 
steht zunächst die staatlich-politische Tole- 
ranz, deren Wesen darin besteht, daß der Staat 
den verschiedenen Religionsgesellschaften entweder 
durch die beschworene Verfassung oder in besondern 
Verträgen oder kraft langen Herkommens mit 
Gesetzeskraft gesetzliche Duldung gewährt, die 
je nach Umständen bis zur Religionsgleichheit 
oder Parität, ja bis zum Vollgenuß aller bürger- 
lichen und staatsbürgerlichen Rechte in voller Un- 
abhängigkeit vom religiösen Bekenntnis sich stei- 
gern kann. Jedoch ist Religionsfreiheit weder mit 
der Parität noch mit der Toleranz begrifflich iden- 
tisch. Nicht mit ersterer, denn die Errichtung einer 
aus allgemeinen Steuern unterhaltenen oder mit 
gewissen Vorrechten ausgestatteten Staatskirche, 
wie z. B. der Established Church in Eng- 
land, würde zwar gegen die Parität gegen- 
über Dissidenten, nicht aber gegen die Religions- 
freiheit der Staatsbürger überhaupt verstoßen. 
Nicht mit letzterer, denn das in der staatlichen 
Toleranz ruhende Recht, Religionsfreiheit in 
vollem Umfang oder innerhalb gewisser Grenzen 
zu gewähren, begreift als Korrelat das weitere 
Recht in sich, diese Religionsfreiheit unter Um- 
ständen auch staatlich zu versagen oder zu be- 
schränken, wie die Toleranzgesetzgebung aller Jahr- 
hunderte beweist. Im modernen Rechtsstaat gilt 
als Grundsatz nicht bloße Toleranz gegen die Re- 
ligionen, sondern das Prinzip völliger Religions- 
freiheit. 
3. Den drei soeben entwickelten Formen der 
Toleranz stehen als Gegensätze ebenso viele Arten 
der Intoleranz gegenüber. An erster Stelle 
und zu oberst steht die „theoretisch-dogma- 
tische Intoleranz“, welche nach früher Ge- 
sagtem nichts anderes ist als der innere, obijektive 
Kampf der nach Alleinherrschaft ringenden Wahr- 
heit gegen den Irrtum oder, auf das Glaubens-= 
gebiet übertragen, der unvermeidliche, aus der 
Sache selbst entspringende Antagonismus der 
wahren gegen alle falschen Religionen. Es gibt 
nur ein Einmaleins, und es duldet kein anderes 
neben sich. So wenig es zweierlei Wahrheiten 
oder ein Mittleres zwischen ja und nein geben 
kann, ebensowenig kann die wahre, von Gott selber 
vorgeschriebene Religion es sich gefallen lassen, mit 
den falschen theoretisch auf gleichem Fuß behandelt 
zu werden. Schon an und für sich von der Pflicht 
der Wahrheitsliebe gefordert, wird diese Form der 
Unduldsamkeit denn auch bei jeder sachlichen Po- 
lemik in Wissenschaft, Kunst, Politik und Religion 
anstandelos von jedermann geübt und als ein 
selbstverständliches Recht in Anspruch genommen. 
(Uber Wahrheitsliede s. G. Ratzenhofer, Positive 
Ethik (1900] 261, 294). — Verbindet sich da- 
gegen mit dieser sittlich erlaubten, ja pflichtmäßigen 
Intoleranz gegen die Sache zugleich eine mehr 
oder minder gehässige Unduldsamkeit gegen die 
Toleranz. 
  
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irrende Person, so kommt die „praktisch- 
bürgerliche Intoleranz“ zum Vorschein, 
welche als häßliche Untugend und Charaktereigen- 
schaft zugleich das Gebot der christlichen Nächsten- 
liebe mit Füßen tritt. Der sarkastische Swift hatle 
nur zu recht, wenn er meinte: „Von Religion haben 
viele gerade genug im Leib, um sich gegenseitig zu 
hassen, aber nicht genug, um einander zu lieben“ 
(j. John S. Mackenzie, An Introduction to 
Social Philosophy IGlasgow 1890] 116). 
Während der in allen Lebenslagen immer duld- 
same Mensch allein liebenswürdig bleibt, wird die 
widerliche Erscheinung des Intoleranten von allen 
Edelgesinnten mit Recht verabscheut und ge- 
mieden. „Die Intoleranz gegen die Sache, die 
Nichtanerkennung einer innern Gleichberechtigung 
anderer Religionen und Religionsgesellschaften in- 
volviert nicht die Intoleranz gegen die Personen; 
vielmehr läuft der Exklusivität des Glaubens die 
Expansion der Charitas parallel“ (Hugo Lämmer. 
Institutionen des kathol. Kirchenrechts (2 1892) 
398). Wo vollends Staatsbürger verschiedener 
Konfession im selben Gemeinwesen zusammen- 
wohnen, da ist gegenseitige Duldung die unerläß- 
liche Voraussetzung für den konfessionellen Frieden 
und die Grundbedingung gedeihlicher Mitarbeie 
an den hohen Aufgaben des Staats. Ein wilder. 
staatsverderblicher Krieg aller gegen alle würde 
entbrennen wie zur Zeit der blutigen Religions-= 
kriege, wenn es den Anhängern verschiedener Be- 
kenntnisse unbenommen wäre, nach einem ge- 
flügelten Wort Kaiser Wilhelms II. wegen Glau- 
bensdifferenzen „sich die Köpfe blutig zu schlagen“. 
Der Dreißigjährige Krieg, diese bitterste Frucht 
der abendländischen Kirchenspaltung, hat mit seinen 
verheerenden Wirkungen der Entvölkerung, Ver- 
ödung und Verwilderung unseres deutschen Vater- 
lands zur Warnung für alle Zukunft ein weithin 
sichtbares Menetekel auf die Wand der Welt- 
geschichte geschrieben. — Die „staatlich-poli- 
tische Intoleranz“ als dritter Gegensat 
äußert sich am schroffsten im Bekenntnis= und 
Kultuszwang, wie bei der Durchführung der 
Staatsmaxime: Cuius regio, illius et religio. 
Da jedoch das äußere Bekenntnis und der litur- 
gische Gottesdienst nur den natürlichen und spon- 
tanen Ausdruck der ungeheuchelten innern Glau- 
bensgesinnung bilden sollen, so ist klar, daß im 
staatlichen Religionszwang zugleich eine furchtbare 
Vergewaltigung der Gewissen und eine Glaubens- 
knechtung schlimmster Art vorliegt. Gleichwohl 
leuchtet auch ohne Beweis ein, daß auf das Innere 
des Menschen weder die staatliche noch die kirchliche 
Gewalt einen physischen Zwang auszuüben ver- 
mag. Ins Heiligtum der Gedanken dringt keine 
geschaffene Macht; die Herzen hat Gott allein in 
seiner Hand. Daher der römische Rechtsgrund- 
satzz De internis non iudicat praetor. Weil 
jedoch die Kirche — nicht so der Staat — mit 
ihrer gottgesetzten Autorität auch bis in die Ge- 
wissen hinein regiert, indem sie neben dem Forum
	        
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