Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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1863.) Insofern sich hierin Überzeugungstreue, dogmatischen Intoleranz aus der Unsittlichkeit des 
Erhaltungstrieb, Selbsibehauptung, Vertrauen Indifferentismus s. J. Pohle, Toleranz, in Wetzer 
auf die Wahrheit der eignen Sache aussprechen, und Weltes Kirchenlexikon XI2 (1899) 1859 ff. 
liegt Konsequenz im System, über die kein Ver= 3. Obschon die katholische Kirche nach dem 
nünftiger sich entsetzt. Allerdings machte der ewig Vorgang Christi und seiner Apostel im Satz 
schwankende, niemals und nirgends greifbare Ge= Extra Ecclesiam nulla salus die dogmatische 
stalt gewinnende Begriff der „Kirche“ von jeher Intoleranz auf ihre Fahne geschrieben hat, so hat 
dem Protestantismus viel zu schaffen, wie der edle sie dennoch von alters her auch bei getauften 
Protestant Friedr. Perthes klagt: „Wäre nicht Christen — über Ungetaufte maßt sie sich keine 
die Scham und die Scheu vor der katholischen Herrschaft an (s. Lämmer a. a. O. 393 ff) — 
Kirche, wie laut, wie verzweiflungsvoll würden einen wesentlichen Unterschied zwischen schuldlos 
wir die Rufe gläubiger Protestanten nach der Irrenden und frevelhaft Widerstrebenden gezogen. 
Hilse und Autorität einer Kirche ertönen hören“ Hierauf gründet die überaus wichtige, auch im 
(Fr. Perthes' Leben, von Cl. Th. Perthes III Kirchenrecht scharf betonte Unterscheidung zwischen 
11855, 1892) 201). Auch ist hier wohl die materieller und formeller Häresie. Nach der all- 
Frage am Platz: Wissen sich die Gegner der gemeinen Lehre der Kanonisten und Moralisten 
katholischen Kirche von der äußersten Rechten bis sind die schuldlos im Glauben Irrenden, d. h. die 
zur äußersten Linken von dieser Form religiöser 
Unduldsamkeit vielleicht frei? Üben sie in Wort 
und Schrift die dogmatische Intoleranz nicht in 
der denkbar schärfsten Weise?: Es soll ihnen hier- 
aus solange kein Vorwurf gemacht sein, als der 
Ton des Angriffs anständig, die Polemik sachlich, 
der Ehrenschild blank bleibt. Im Grund nur eine 
gesunde Reaktion gegen alles, was die Allein- 
herrschaft der Wahrheit beeinträchtigt, ist die dog- 
matische Intoleranz — gleichviel, von welcher Re- 
ligionspartei sie ausgeht — nicht nur nicht sittlich 
unerlaubt, sondern sogar ein Gebot der Selbst- 
achtung und Selbsterhaltung. Nicht einmal Un- 
glaube und Atheismus sind dogmatisch tolerant; 
denn „es gibt eine Dogmatik des Radikalismus, 
die an Selbstsicherheit von keiner andern Dog- 
matik übertroffen wird“ (F. W. Förster in Ethische 
Kultur (1903) 78). Der Botaniker J. Reinke hat 
auf seinem Lebensweg „ein atheistisches Pfaffen- 
tum getroffen, unduldsamer als jedes andere, das 
alle, die ihm nicht unbedingt folgten, für Schwach- 
köpfe und Heuchler erklärte“ (Die Welt als Tat 
[18991) 5). Mit Recht sagt J. Mausbach: „Frei- 
heit, Vorurteilslosigkeit, Toleranz sind oft am 
wenigsten da zu haben, wo sie das grellbeleuchtete 
Aushängeschild bilden“ (Kernfragen christl. Welt- 
und Lebensanschauung I719081 28). Nach einer 
feinsinnigen Bemerkung von J. Balmes (a. a. O. 
390) macht sich schon überall da, wo zwei ver- 
schiedene Auffassungen in Kunst. Wissenschaft, 
Politik streitend um die Palme ringen, mit ele- 
mentarer Notwendigkeit jene selbe dogmatische 
Intoleranz geltend, welche die Kirche als unfehl- 
bare Verkünderin der Offenbarungswahrheiten 
für sich in Anspruch nimmt. Allein diese sachliche 
Unduldsamkeit, wie sie in Rede und Widerrede 
sich ausspricht, tut der Duldsamkeit und Liebe 
gegen die angegriffenen Personen so wenig Ein- 
trag, daß im Parlament die Abgeordneten der 
verschiedensten Parteirichtungen, die sich auf der 
materiellen Häretiker — als solche gelten im 
allgemeinen alle Akatholiken, welche in ihrer Sekte 
geboren und erzogen sind —, so wenig den eigent- 
lichen oder formellen Ketzern zuzurechnen, daß 
sie vielmehr insgeheim und unbewußt der wahren 
Kirche Christi angehören können: folglich sind sie, 
wie von aller Gewissensschuld vor Gott, so auch 
von den Kirchenstrafen (z. B. Exkommunikation) 
freizusprechen (s. Laymann, Theol. moral. II 3, 
12; Ballerini-Palmieri, Opus theol. morale II) 
(1899) 62 f; Devoti, lus canon. IV, tit. 4, 
§* 1 ff). Schon Augustinus erklärte (Ep. 162 ad 
Glor.): Qui sententiam suam atque perver- 
sam nulla pertinaci animositate defendunt, 
braesertim quam non audacia suae prae- 
sumptionis pepererunt, sed a seductis et in 
errorem lapsis parentibus acceperunt. 
corrigi parati, cum veritatem invenerint, 
nequaquam sunt inter haereticos deputandi. 
Demgemäß hat der Glaubenssatz „Außer der 
Kirche kein Heil" nicht den Sinn, den unwissende 
oder böswillige Gegner unterschieben: „Jeder 
1 Akatholik ist zur Hölle verdammt“, sondern besagt 
nur: „Jeder wider besseres Wissen aus der Kirche 
Fernbleibende oder von der Kirche Abfallende 
kann nicht selig werden.“ Die ganze Frage hat, 
wie Hettinger treffend hervorhebt, „keine subjektiv- 
personale, sondern eine objektiv-formale Bedeu- 
tung; sie untersucht die Bedingung des Heils an 
sich, nicht aber deren Erfüllung in den einzelnen; 
sie fragt: Was macht selig? nicht: Wer wird 
selig?“ Nachdem Pius IX. in seiner Allokution 
vom 9. Dez. 1854 die Angriffe auf das Dogma 
von der „alleinseligmachenden Kirche“ zurückge- 
wiesen hat, zögert er nicht hinzuzufügen (bei Den- 
zinger-Bannwart a. a. O. u. 1647): Sed tamen 
pro certo pariter habendum est, qui verae 
religionis ignorantia laborent, si en sit invin- 
cibilis, nullos ipsos obstringi huiusce rei 
culpa ante oculos Domini. Mit diesem Grund- 
  
  
Rednerbühne soeben aufs heftigste bekämpften, satz steht die allgemeine Theologenlehre im Ein- 
untereinander kameradschaftliche, ja oft freund= klang, daß auch die Heiden die ewige Seligkeit 
schaftliche Beziehungen pflegen. Uber den weit= erlangen können (s. J. Pohle, Lehrbuch der Dog- 
läufigen Beweis der sittlichen Berechtigung der matik II//(1909) 429 ff).
	        
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