Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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fang wieder ins Leben rief, eine Reihe von Lücken in 
ihr ergänzte und dem Volk neue Rechte gewährte; 
dem Hatt-i-humajun vom 6. Aug. 1908, der 
die Ernennung der Minister mit Ausnahme des 
Scheichu'l-Islam dem Großwesir zuerkennt. (Die 
Verfassungsbestimmungen sind im folgenden nach 
der Übersetzung von Krälitz-Greifenhorst gegeben.) 
Nach den angeführten Verfassungsgesetzen ist die 
ausübende Gewalt beim Sultan, während an 
der gesetzgebenden Gewalt das Parlament Anteil 
hat. Mit der Herrscherwürde des Oemanischen 
Reichs ist auch das hohe islamitische Kalifat ver- 
einigt; die Würde geht nach einem seit alters 
gültigen Gesetz auf den ältesten Prinzen der Dy- 
nastie Osman über. Der Sultan ist als Kalif 
Schützer der islamitischen Religion, Beherrscher 
und Padischah aller osmanischen Untertanen, doch 
wird er als Kalif von den Schiiten und auch 
von einigen Sunniten Arabiens nicht anerkannt. 
Seine Person ist heilig, er selbst unverantwortlich. 
Hoheitsrechte des Sultans sind die Ernennung 
und Absetzung der Minister, die Verleihung von 
Amtern, Würden und Orden, die Investitur der 
Gouverneure der privilegierten Provinzen gemäß 
den Bestimmungen der diesen verliehenen Privi- 
legien, die Münzprägung, die Erwähnung seines 
Namens im öffentlichen Gebet, die Abschließung 
von Verträgen mit auswärtigen Staaten, die Er- 
klärung von Krieg und Frieden, der Oberbefehl 
über die Land= und Seemacht, die Beförderung 
von Militärpersonen, die Ausübung der Gerichts- 
barkeit nach den Scheriat= und Kanungesetzen, 
die Aufstellung von Regulativen über die öffent- 
liche Verwaltung, die Milderung oder gänzliche 
Nachlassung von gesetzlichen Strafen, die Berufung 
und Vertagung und erforderlichenfalls die Auf- 
lösung des Parlaments, letzteres unter der Be- 
dingung, daß zugleich Neuwahlen ausgeschrieben 
werden. Alle Regierungshandlungen und sonstigen 
Willenskundgebungen des Monarchen tragen statt 
der Unterschrift den in Monogrammform ver- 
schlungenen Namenszug des jeweiligen Sultans. 
Die Souveränität des Sultans wie der Türkei 
überhaupt ist durch europäische Staaten räumlich 
und sachlich eingeschränkt: räumlich in Agypten 
(s. d. Art.), auf den Inseln Samos und Kreta 
(s. Abschn. VIII), sachlich hinsichtlich der Rechts- 
verhältnisse der Ausländer (s. Abschn. III), durch 
das Protektoratsrecht einiger Staaten, ferner in 
gewissem Sinn auch dadurch, daß mehrere Mächte 
in einer Anzahl von Orten des Osmanischen Reichs 
eigne Post= und Telegraphenanstalten unterhalten, 
die unabhängig von der türkischen Verwaltung 
den Verkehr zwischen der Türkei und dem Aus- 
land vermitteln, und hinsichtlich der Zollpolitik 
(s. Abschn. VII, Handel). — Die Zivilliste des 
Sultans betrug anfangs 25.000, seit der Ab- 
gau Abdu'l-Hamids nur noch 20 000 türkische 
und. 
Das Parlament besteht aus zwei getrennten 
Kammern, dem Senat und dem Abgeordneten- 
Türkei. 
  
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haus. Beide Kammern treten in der Regel am 
1. Nov. jedes Jahres zusammen und werden durch 
eine Jrade des Sultans (entweder durch diesen per- 
sönlich oder in seiner Vertretung durch den Groß- 
wesir unter Verlesung einer Thronrede) eröffnet 
und durch eine solche am 1. März geschlossen; doch 
kann der Herrscher sie auch vor dieser Zeit berufen, 
die Sessionsdauer verkürzen oder verlängern. Keine 
der beiden Kammern kann zu einer Zeit tagen, in 
der die andere nicht versammelt ist. Die Mit- 
glieder des Parlaments werden bei der Eröffnung 
vereidigt und schwören dem Sultan und dem 
Vaterland treu zu dienen und alle ihnen durch die 
Verfassung und ihr Mandat auferlegten Pflichten 
zu erfüllen. In der Abgabe ihrer Stimme sind 
sie unabhängig, an keinerlei Versprechungen und 
Instruktionen gebunden. Kein Mitglied darf 
wegen seiner Abstimmung oder Meinungsäuße- 
rungen im Parlament anders als auf Grund des 
Organisationsstatuts des Parlaments verfolgt 
werden. Die Eigenschaft eines Parlamentsmit- 
glieds geht verloren, wenn ein Mitglied mit Zwei- 
drittelmajorität derjenigen Kammer, der es an- 
gehört, eines Verrats, einer versuchten Verletzung 
oder Außerkraftsetzung der Verfassung oder einer 
Veruntreuung angeklagt wird oder gesetzlich zu 
einer Gefängnisstrafe oder zur Verbannung ver- 
urteilt worden ist. Niemand kann gleichzeitig 
Mitglied beider Kammern sein. Die Initiative 
zu neuen Gesetzen oder Gesetzesänderungen geht 
von der Regierung aus, doch haben beide Kam- 
mern das Recht, in Sachen, die zu ihrem fest- 
bestimmten Wirkungskreis gehören, den Erlaß 
eines neuen oder die Anderung eines bestehenden 
Gesetzes zu verlangen und das Verlangen durch 
den Großwesir dem Herrscher zu unterbreiten. Die 
Gesetzentwürfe werden zuerst vom Staatsrat aus- 
gearbeitet und beraten, dann dem Abgeordneten- 
haus und nachher dem Senat vorgelegt; nach der 
Annahme durch beide Kammern erlangen sie Ge- 
setzestraft, wenn sie durch eine kaiserliche Irade 
sanktioniert werden. Die Beratungen beider Kam- 
mern erfolgen nur in türkischer Sprache, die Ab- 
stimmung erfolgt namentlich oder durch besondere 
äußere Zeichen oder geheim (in letzterem Fall ist 
Zustimmung der Mehrheit der vorhandenen Mit- 
glieder erforderlich). 
Der Präsident und die Mitglieder des Senats, 
deren Zahl unbestimmt ist (Febr. 1911: 54), aber 
ein Drittel der Mitglieder des Abgeordneten- 
hauses nicht überschreiten darf, werden vom Sul- 
tan auf Lebenszeit ernannt, und zwar aus den 
ehemaligen Ministern, Provinzgouverneuren, 
höheren Offizieren, diplomatischen Vertretern, 
Patriarchen und Oberrabbinern; Voraussetzung 
ist Vollendung des 40. Lebensjahrs, hervorragende 
Verdienste um den Staat und Vertrauen der Mit- 
bürger. Die von der Kammer 1910 beschlossene 
Verfassungsänderung, wonach zwei Drittel des 
Senats gewählt werden sollen, wurde von diesem 
selbst verworfen. Die Senatoren erhalten einen
	        
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