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monatlichen Gehalt von 10 000 Piastern; bei
Mitgliedern, die schon aus der Staatskasse be-
soldet sind, wird der Gehalt bis zu der Höhe der
genannten Summe erhöht. Der Senat hat die
ihm von der andern Kammer vorgelegten Gesetzes-
und Budgetentwürfe zu prüfen und kann sie, falls
sie gegen die Versassungsbestimmungen, gegen den
Glauben, gegen die Sicherheit des Staats oder
die öffentliche Sicherheit verstoßen, verwerfen oder
zwecks Verbesserung und Abänderung an das Ab-
geordnetenhaus zurücksenden; die angenommenen
Vorlagen approbiert der Senat und unterbreitet
sie dem Großwesir zur kaiserlichen Sanktion. Der
Senat prüft auch die ihm übergebenen Petitionen
und übergibt sie nötigenfalls mit seinen Bemer-
kungen dem Großwesir.
Die zweite Kammer des Parlaments, das
Medschlis-i-umumi, besteht aus 250 Mitgliedern
(je eines auf 50 000 männliche osmanische Unter-
tanen); die Wahlen erfolgen geheim und indirekt:
500 oder wenigstens 250 Urwähler entsenden
einen Wahlmann; die Wahlkreise decken sich mit
den Sandschaks. Jene Sandschaks, in denen die
Zahl der männlichen Untertanen 50 000 nicht
erreicht, können einen Abgeordneten entsenden,
wenn sie wenigstens 25 000 beträgt. Das aktive
Wahlrecht hat jeder selbständige, 25 Jahre alte, im
Besitz der bürgerlichen Rechte stehende Ottomane,
der irgend eine Steuer entrichtet (auch aktive Mi-
litärs). Das passive Wahlrecht wird durch ein
Mindestalter von 30 Jahren bedingt. Staats-
ämter mit Ausnahme der Ministerstellen sind mit
der Ausübung des Abgeordnetenmandats inkom-
patibel; ferner können nicht als Abgeordnete ge-
wählt werden dieder türkischen Sprache Unkundigen,
Personen, die zur Zeit der Wahl im Dienstverhält-
nis zu einer andern Person stehen, Bankrotteure,
unter Kuratel Stehende, der politischen Rechte Ver-
lustige und Personen, deren sittenloser Lebens-
wandel bekannt ist. Für die Wahlen zu den
späteren Parlamenten wird Kenntnis im Lesen
und wenn möglich auch im Schreiben der türkischen
Sprache verlangt. Die allgemeinen Wahlen zum
Abgeordnetenhaus finden alle vier Jahre statt,
und zwar spätestens vor dem 1. Nov., dem regel-
rechten Tag seines Zusammentritts. Die Abge-
ordneten müssen zur Bevölkerung des Provinz-
bezirks gehören, für den sie kandidieren. Bei einer
Auflösung des Abgeordnetenhauses müssen die
Neuwahlen innerhalb 6 Monaten vollzogen sein.
Die Wahlen werden durch Wahlkommissionen.
ohne Ingerenz der politischen Behörden, geleitet.
Jeder Abgeordnete erhält jährlich für die Ses-
sionsperiode 20 000 Piaster sowie Ersatz der
Reisekosten. Die drei Präsidenten werden aus 9
vom Parlament gewählten Kandidaten (je 3 für
jede Präsidentenstelle) vom Sultan ernannt. Die
Verhandlungen der Abgeordnetenkammer sind
öffentlich, können aber auf Antrag der Minister
oder von 15 Abgeordneten auf Beschluß der
Kammermehrheit geheim abgehalten werden. Kein
Türkei.
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Abgeordneter kann während der Sessionsdauer
verhaftet oder gerichtlich verfolgt werden, außer
wenn das Haus mit Stimmenmehrheit die Zu-
lässigkeit einer Klage beschließt oder wenn das
Mitglied bei oder unmittelbar nach der Verübung
eines Verbrechens oder Vergehens betroffen wird.
Die Abgeordneten beraten über die ihnen vor-
gelegten Gesetzentwürfe und haben das Recht, an
denjenigen Punkten, die mit den Finanzen oder
der Verfassung im Zusammenhang stehen, Ande-
rungen oder Verbesserungen vorzunehmen; die Be-
schaffenheit und Höhe der Ausgaben und der zu
ihrer Deckung dienenden Einnahmen, die Art und
Weise der Verteilung der Einnahmen und ihre
Flüssigmachung wird vom Abgeordnetenhaus im
Einverständnis mit der Regierung geregelt.
Eine Parteibildung nach Konfessionen und Na-
tionalitäten ist innerhalb der Kammer noch nicht
erfolgt; es lassen sich jedoch zwei Hauptgruppen
unterscheiden (vgl. hierüber Art. Parteien, poli-
tische Bd III, Sp. 1614 ff). In der jüngsten Zeit
haben sich die arabischen Mitglieder der Kammer
zu einer besondern Gruppe zusammengeschlossen.
Die Verwaltung des Reichs ist seit Mah-
mud II. (1808/39), der die alte Selbstverwaltung
der Feudalherren, der Dere-Beys und Paschas
beseitigte und an ihre Stelle eine Bureaukratie
setzte, zentralistisch eingerichtet. Doch hat die tür-
kische Bureaukratie durch ihre Unfähigkeit und
Korruption seither den innerlichen Verfall des
Reichs nicht wenig befördert, da sie es nicht ver-
standen hat, um die auseinanderstrebenden, sich
vielfach gegensätzlich gegenüberstehenden Nationa-
litäten und Konfessionen wenigstens durch eine
wirtschaftliche Interessengemeinschaft ein einigendes
Band zu schlingen. Der höchste weltliche Beamte
des Reichs ist der Großwesir, der Vorsitzende des
Ministerrats, der nach dem Hatt-i-humajun vom
6. Aug. 1908 die Auswahl der übrigen Minister,
mit Ausnahme des Scheichu'l--Islam, zu treffen
und seine darauf bezüglichen Vorschläge dem Sul-
tan zu unterbreiten hat. Dem Großwesir obliegt
auch die Wahl der diplomatischen Vertreter aller
Anrt bei den auswärtigen Mächten mit Zustimmung
des Ministers des Außern, der Provinzgouverneure
mit Zustimmung des Ministers des Innern und der
Mitglieder des Staatsrats mit Zustimmung des
Präsidenten des letzteren. Die Auswahl und Er-
setzung aller Beamten, ihre Auszeichnung und ihr
Avancement geschehen mit Genehmigung des zu-
ständigen Ministers oder Chefs und Zustimmung
des Großwesirs. Der hoöchste geistliche Justiz-
beamte und zugleich Minister des mohammedani-
schen Kultus und Unterrichts sowie Obervormund
und Verwalter des Vermögens aller Waisen ist
der zum Kabinett gehörige Scheichu'l. Islam, von
dem alle Religions-, Unterrichts= und geistlichen
Gerichtsbeamten ressortieren; er hat das Recht,
ohne Vermittlung des Großwesirs dem Herrscher
über die Angelegenheiten seines Ressorts Vortrag
zu halten. Die übrigen Minister sind dem Groß-