Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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liche Recht ehemals beherrschte, ist im Lauf der 
Zeit, besonders des 19. Jahrh., immer mehr ein- 
geschränkt worden, und man hat sich von den An- 
schauungen des Propheten in vielen Punkten ent- 
fernt; die neuen Reformgesetze wie auch die 
Verfassung verstoßen oft gegen die geistliche Rechts- 
ordnung. Dem Konflikt, der so zwischen Scheriat= 
staat und Verfassungsstaat vorhanden ist, sucht 
man in der Regel durch eine künstliche Interpre- 
tation des vielfach unbestimmten, verschwommenen 
und elastischen Scheriatrechts vorzubeugen. 
Die weltlichen ordentlichen Gerichte, die vom 
Justizminister ressortieren, entscheiden private 
Rechtsstreitigkeiten nach dem Bürgerlichen Gesetz- 
buch des Osmanischen Reichs von 1851, das zum 
Teil dem Code Napoléon nachgebildet ist, und 
die Strafsachen auf Grund des Strafgesetzbuchs 
von 1858 (ein neues wurde 1911 in der Kammer 
genehmigt). In jeder Ortschaft besteht zur Ab- 
urteilung leichter Straftaten und zur Vornahme 
von Sühneversuchen in Zivilsachen ein Friedens- 
gericht, das aus der Versammlung der Gemeinde- 
ältesten zusammengesetzt ist, in jeder Kasa ein 
Kreisgericht erster Instanz für Zivil= und Straf- 
sachen mit einem Präsidenten und zwei Beisitzern, 
in der Hauptstadt jedes Sandschaks ein zentrales 
Bezirksgericht erster Instanz mit drei Richtern, in 
der Hauptstadt jedes Wilajets (außer in Brussa; 
auch nicht in den Hauptstädten der selbständigen 
Sandschaks) ein Appellationsgericht zur Berufung 
gegen die von Gerichten erster Instanz gefällten 
Urteile sowie zur erstinstanzlichen Aburteilung von 
Verbrechen, wenn diese ihnen durch Beschluß der 
Eröffnungskammer überwiesen werden. Die Ap- 
pellationsgerichte bestehen aus je einer Zivil= und 
Strafkammer, jede mit einem Vorsitzenden und 
zwei Berufsrichtern und zwei auf ein Jahr ge- 
wählten Beisitzern; Vorsitzender der Zivilkammer 
ist der höchste geistliche Richter des Wilajets. Die 
Gerichte in Konstantinopel sind ähnlich eingerichtet 
wie in den Provinzen; es sind hier vorhanden 
zwei Gerichte erster Instanz und ein Appellations- 
gericht mit vier Kammern. Höchste Instanz ist der 
Kassationshof in der Reichshauptstadt, der aus drei 
Kammern besteht, mit einem Präsidenten, zwei 
Vizepräsidenten und 16 Richtern besetzt ist. 
Die Handelsgerichte bestehen aus zwei stän- 
digen Berufsrichtern und vier aus den angesehen- 
sten Kaufleuten gewählten Beisitzern; in größeren 
Seestädten bestehen die verstärkten Handelsgerichte 
aus je einer Kammer für den Land= und See- 
handel. Die Berufung geht von den Handels- 
gerichten an die Appellationsgerichte. — Mängel 
der weltlichen Gerichtsbarkeit sind die ungenügende 
Vorbildung, vielfach auch Indolenz und Charakter= 
schwachheit der Richter, der schleppende Geschäfts- 
gang sowie der Umstand, daß wegen Sparsamkeits- 
rücksichten und um den Antagonismus mit den 
geistlichen Gerichten zu vermeiden, die geistlichen 
Richter vielfach auch die wellliche Gerichtsbarkeit 
ausüben. 
  
Türkei. 
  
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Die nichtmohammedanischen geistlichen Gerichte 
unterstehen der höchsten geistlichen Obrigkeit der 
nichtmuselmännischen Religionsgesellschaften: den 
Patriarchen, Erzbischöfen, Bischöfen, Rabbinern 
und deren Stellvertretern, die in der Türkei auch 
richterliche Befugnisse in personenstandsrechtlichen 
Fragen haben. In den Provinzen ist ein solches 
Gericht an dem Amtssitz jedes höheren Geistlichen 
vorhanden; gegen seine Entscheidung ist Berufung 
an das bei dem Patriarchat jeder Religions- 
gesellschaft gebildete Gericht zulässig. — Über die 
Konsulargerichtsbarkeit für die Ausländer siehe 
oben Sp. 568 f. 
IV. Staat und Kirchen. Die frühere Ein- 
heit von geistlichem und weltlichem Recht, von 
geistlicher und weltlicher Verfassung in der Türkei 
wird auch in der neuen Verfassung in gewissem 
Sinn dadurch aufrecht erhalten, daß der Islam 
zur Staatsreligion erklärt ist (§ 11); daneben 
wird aber allen bisher anerkannten Religionen 
freie Ubung gewährt unter der Bedingung, daß 
sie nicht gegen die öffentliche Ordnung und 
Sicherheit verstoßen, und die bisher den verschie- 
denen Religionsgemeinschaften verliehenen Privi- 
legien behalten ihre Gültigkeit. Über die religiöse 
Seite des Jslams s. d. Art. Religionsgesellschaften 
Bd IV, Sp. 536 ff. Kirchliches Oberhaupt des 
Islams im Osmanischen Reich bzw. direkter Reprä- 
sentant der geistlichen Gewalt des Kalifen ist 
der Scheichu'l-Islam (s. oben III); ihm unter- 
stehen drei verschiedene Kategorien von Beamten, 
die sämtlich als Ulemas bezeichnet werden: die der 
geistlichen Gerichte (s. Abschn. III), der geistlichen 
Schulen (s. Abschn. V) und die Beamten des 
mohammedanischen Kultus. Die mohammedani- 
schen Kultusdiener zerfallen in fünf Klassen: die 
ordentlichen Prediger in den Moscheen (Scheichs), 
die alle Freitage nach dem feierlichen Mittags- 
gottesdienst predigen; die Chatibe, die alle Freitage 
in den Moscheen das Gebet für den Sultan und 
Kalifen verrichten, dem der Sultan in Konstan- 
tinopel regelmäßig beiwohnt; die Imam, die täg- 
lich, außer Freitags, das fünfmalige Gebet zu den 
vorgeschriebenen Stunden in den Moscheen ver- 
richten, die Trauungen, Beschneidungen und Be- 
gräbnisse vornehmen, auch einige geringe admini- 
strative Befugnisse haben; die Muezzin oder Ge- 
betsrufer, die fünfmal des Tags die Gläubigen 
vom Minaret der Moscheen zum Gebet rufen; die 
Unterbeamten wie die Küster, Kirchendiener usw. 
In Bezug auf die nichtmohammedani- 
schen Konfessionen haben sich im Lauf der 
Zeit eigentümliche Verhältnisse herausgebildet. 
Nach dem Gesetz des Kalisen Omar (633/644), 
das bis ins 19. Jahrh. galt, waren die christ- 
lichen und jüdischen Untertanen, die Rajas 
(„Herde“, d. h. beherrschte Masse) rechtlich Unter- 
tanen zweiter Klasse, die nicht dieselben staatlichen 
Rechte mit den Gläubigen teilen durften. Für die 
Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten, die zwischen 
diesen Untertanen entstanden, stattete man die
	        
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