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nichtmohammedanische Geistlichkeit mit juris-
diktionellen und verwaltungsrechtlichen Befugnissen
aus, die sie in den Stand setzten, die Rechts-
verhältnisse ihrer Glaubensgenossen zu regeln,
ohne daß die osmanische Regierung damit wesent-
lich befaßt wurde. Die Geistlichen wurden so
nicht nur die Seelsorger, sondern auch die poli-
tischen Chefs ihrer betreffenden Konfession, die
kirchlichen Sprengel wurden zu politischen Be-
zirken, die geistlichen auch zu weltlichen Obrig-
keiten; die Kirchensprengel vereinigten sich zu
einem weiteren politischen Bezirk, der Dihözese,
und die Gesamtheit der Diözesen machte das ganze
kirchenpolitische Gebilde, das Millet (Mehrzahl
Milel), aus. An der Spitze des Millet stand der
Patriarch, mit dem die Staatsregierung verkehrte,
der die Interessen seiner Gläubigen vertrat, durch
dessen Vermittlung der Wille des Sultans den
christlichen (und jüdischen) Untertanen kundgegeben
wurde. Diese Milel bildeten so eigne Staats-
gebilde im osmanischen Stoatsorganismus mit
eigner Gesetzgebung, Verwaltung und Rechts-
pflege, soweit sich das mit der osmanischen
Staatsverfassung vertrug. Ihre politische Be-
deutung wuchs noch dadurch, daß sie einen starken
Rückhalt an den Großmächten fanden, die eifrig
bemüht waren, ihren Einfluß bei der Pforte zu-
gunsten der einzelnen Religionsgesellschaften gel-
tend zu machen, so Rußland für die Griechen und
Armenier, England für die Protestanten, Frank-
reich, Osterreich-Ungarn, Spanien und der päpst-
liche Stuhl für die Katholiken und die mit Rom
Unierten. Die Gleichberechtigung der Christen
mit den Mohammedanern, die vorbereitet wurde
durch den Hatt-i-scherif von Gülhane 1839, weiter
gefördert durch den Hatt-i-humajun von 1856,
wurde vollendet durch die Konstitution, die volle
Gleichheit, selbst in der Teilnahme der Christen
am Heeresdienst, aussprach; faktisch ist allerdings
diese Gleichberechtigung nicht überall durchgeführt,
und die konstitutionelle Türkei hat sich z. B. in
dem 1910 erlassenen Gesetz über die zwischen den
Anhängern des griechischen Patriarchats in Kon-
stantinopel und denen des bulgarischen Exarchats
strittigen Kirchen und Schulen in Mazedonien
über die Rechte der griechischen Kirche hinweg-
gesetzt, suchte auch sonst mehrfach auf indirekte
Weise die Privilegien der Milel zu schmälern.
Die wichtigsten Privilegien, deren Beibehaltung
durch die Verfassung anerkannt ist, sind die auto-
nome innere Verwaltung der Kirche, des Kirchen-
und kirchlichen Gemeindevermögens, der von den
Religionsgemeinschaften errichteten Schulen, der
Besuch dieser Schulen, in denen bis vor kurzem
das Türkische wenig gelehrt wurde, und eine gewisse
Autonomie in der Ziviljustiz für Personalrechte,
für Eheschließung, Familien= und Erbrechtssachen.
An solchen Milel bestehen heute in der Türkei
das Millet der griechisch-orthodoxen Raja, das
Millet der gregorianischen Armenier, das der
Bulgaren, das jüdische Millet, das der protestan-
Türkei.
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tischen Raja, die Gesamtheit der mit Rom unierten
orientalischen Nationalkirchen, die lateinische Kirche
des Orients.
Das nach Seelenzahl und politischer Bedeutung
hervorragendste ist das griechische Millet. An
dessen Spitze steht der griechische Patriarch in
Konstantinopel, dem die Vertretung der ortho-
doxen Kirche bei der Pforte obliegt. Als geist-
lichem Oberhaupt gebührt ihm das oberste kirch-
liche Gesetzgebungs-, Regierungs= und Verwal-
tungsrecht, er hat die Direktion aller Kirchen und
Klöster der griechisch-orthodoxen Konfession und
die Oberaufsicht über deren ökonomischen Ver-
hältnisse, er hat die von der Synode gewählten
Bischöfe zu bestätigen und bei Stimmengleichheit
den Ausschlag zu geben; auf seinen Antrag hin
erläßt die Pforte die erforderlichen Berats für die
neu ernannten Prälaten. Der Patriarch und
seine Vikare haben in Ehe= und Testamentssachen
unbeschränkte Jurisdiktion, der Patriarch hat das
Strafrecht über den gesamten Klerus der Kirche
nach den kirchlichen Gesetzen usw. In weltlicher
Beziehung hat er vor allem eine gewisse Polizei-
gewalt bezüglich geringerer Vergehen, Diebstähle
usw.# er besitzt daher ein eignes Gericht, das aus
sieben Offizialen zusammengesetzt ist, eigne Ka-
wassen (Polizeisoldaten) und ein eignes Gefäng-
nis. Alle Zivilstreitigkeiten zwischen Griechen
untereinander, zwischen Griechen und Armeniern,
Griechen und Türken können mit Zustimmung der
Parteien vor das Gericht des Patriarchen gebracht
werden und das hier gefällte Urteil wird auch
von der Pforte als gültig anerkannt. Der Patri-
arch hat außer einigen Ehrenrechten noch einen
besondern Gerichtsstand, indem er nur vor dem
kaiserlichen Diwan angeklagt werden kann.
Das Amt des Patriarchen ist an und für sich
lebenslänglich, doch kann er von der Pforte im
Fall des Hochverrats abgesetzt werden, und die hei-
lige Synode kann in zwei Fällen seine Absetzung
bei der Pforte beantragen, nämlich wenn er die
Verwaltung der Kirche schlecht geführt oder gegen
das Dogma der orthodoxen Kirche gefehlt hat.
Die Wahl des Patriarchen erfolgt in drei Stufen:
dem Vorschlag der Kandidaten durch die dazu be-
rechtigten Bischöse, der Auswahl von drei Kan-
didaten aus diesen Vorgeschlagenen durch eine
Wahlversammlung, die aus geistlichen und welt-
lichen Mitgliedern zusammengesetzt ist, und der
Wahl des Patriarchen aus diesen drei Kandidaten
durch die geistlichen Mitglieder dieser Wahl-
versammlung allein. Die Bestätigung durch die
Pforte erfolgt durch ein Berat (Investiturdekret).
Zur Seite steht dem Patriarchen die Patriarchal=
synode aus zwölf Metropoliten, die alle zwei
Jahre zur Hälfte neu gewählt werden. Die Syn-
ode hat richterliche und administrative Befugnisse:
sie ist Appellationsinstanz für gewisse Urteile der Me-
tropolitangerichte; ohne ihre Zustimmung kann der
Patriarch keine allgemeinen kirchlichen Angelegen-
heiten entscheiden, keinen Bischof ernennen, ihr ob-