Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Rücklehr zur scholastischen (vornehmlich thomisti- 
schen) Philosophie und Theologie statt, doch so, 
daß dieselben durch die Resultate der modernen 
Wissenschaft bereichert wurden. — Eine gewaltige 
Umwälzung brachte in der Jurisprudenz die von 
Karl Friedrich v. Savigny begründete historische 
Schule hervor, die das Recht und den Staat nicht 
mehr als eine philosophische Konstruktion, sondern 
als ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung 
auffaßte und dadurch die Trennung in Romanisten 
(die vom römischen Recht als Quelle der Rechts- 
entwicklung ausgehen) und Germanisten (die das 
deutsche Recht als diese Quelle betrachten) bewirkte. 
Strafrecht und Staatsrecht, Handels-, Wechsel- 
und Seerecht und Luftschiffahrtsrecht haben eine 
eigentümliche und besondere Ausbildung erhalten. 
Die größten Fortschritte haben in diesem Zeit- 
raum die Medizin und die Naturwissenschaften 
aufzuweisen, wodurch die vielfältige Zerlegung 
dieser Disziplinen in Einzelfächer verursacht wor- 
den ist. Die mathematisch -naturwissenschaftliche 
Forschung hatte in Gauß, Weber und Liebig 
bahnbrechende Vertreter. Unter dem Einfluß von 
Joh. Müller und seinen Schülern Helmholtz. Du- 
bois-Reymond, Virchow und Brücke wurde die 
Medizin auf rein naturwissenschaftlicher Grund- 
lage aufgebaut. Die einzelnen Fächer finden ihre 
Pflege in einer reichen Fülle von anatomischen, 
physiologischen, pathologisch-anatomischen,chirur- 
gischen, pharmakologischen und hygienischen In- 
stituten sowie in trefflich ausgestatteten naturwissen- 
schaftlichen Instituten, Laboratorien und Samm- 
lungen. Die Errungenschaften der Chemie und der 
Physik haben auch auf die Entwicklung der In- 
dustrie einen großen Einfluß gewonnen. — Eine 
mathematisch-naturwissenschaftliche als fünfte Fa- 
kultät besteht, nach dem Vorgang von Tübingen, 
nur noch in Straßburg und Heidelberg. An den 
andern Universitäten sind Mathematik und Natur- 
wissenschaften Teile der philosophischen Fakultät, 
die an den bayrischen Hochschulen in zwei Sektio- 
nen zerfällt. Während in Straßburg, Würzburg 
und Münster eine rechts= und staatswissenschaft- 
liche Fakultät besteht, hat man neuerdings an fast 
allen Hochschulen sog. „staatswissenschaftliche Se- 
minarien“ eingerichtet, mancherorts „kameralisti- 
sche“ oder „statistische“ Seminarien genannt. — 
Einebesondere Eigentümlichkeit des modernen Hoch- 
schulwesens ist es, daß neben den Vorlesungen 
Übungen in Seminarien oder Instituten her- 
gehen, welche eigne Arbeitsräume und Fachbiblio- 
theken haben. Die ersten Seminarien wurden am 
Ende des 18. Jahrh. in Göttingen und Halle 
für philologisch-pädagogische Zwecke eingerichtet. 
Gegenwärtig bestehen solche in allen Fakultäten 
außer der medizinisch-naturwissenschaftlichen, in 
denen Institute und Kliniken Ersatz dafür bieten. 
In den seminaristischen Ubungen, die meist für 
Anfänger (Proseminare) und für Vorgerückte ge- 
teilt sind, sollen die Mitglieder die Methode des 
wissenschaftlichen Arbeitens erlernen und an der 
Universitäten. 
  
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Forschung mehr oder minder selbsttätig teilnehmen, 
wie sie in der medizinischen Fakultät sich auch in 
den Kliniken und Krankenhäusern praktisch be- 
tätigen. In der juristischen Fakultät ist der Besuch 
solcher Ubungen für das bürgerliche Recht und den 
Zivilprozeß vorgeschrieben. 
Während in England noch heute für den In- 
genieurberuf die praktische Ausbildung, das „Lehr- 
lingssystem“, als das Wesentliche betrachtet, ander- 
seits der wissenschaftliche Unterricht unterschätzt 
wird, infolgedessen der theoretische Unterricht in 
Spezialschulen erst nach der Lehrlingszeit in einer 
Fabrik oder einem Bureau folgt, erkennt man in 
Deutschland, in Osterreich und der Schweiz wie in 
Nordamerika den hohen Wert des wissenschaftlichen 
Hochschulunterrichts als notwendige Vorbedingung 
für den Ingenieur= und Architektenberuf an. Die 
Bauakademie (gegründet 1799) und die Gewerbe- 
akademie in Berlin, die aus der im Jahr 1821 
eröffneten Technischen Schule hervorging, gehörten 
wie in Paris die Ecole Polytechnique aus dem 
Jahr 1794 zu den ersten wissenschaftlichen tech- 
nischen Lehranstalten in Deutschland. Die Ver- 
suche, an die Universität eine polytechnische Fakultät 
anzugliedern, wie es z. B. in Göttingen geschah, 
blieben vereinzelt, andere Rücksichten und Inter- 
essen entschieden immer stärker und bestimmter für 
eine dauernde Trennung der beiden Kategorien 
von Hohen Schulen. 
Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des 
19. Jahrh., die technisch-praktischen Bedürfnisse 
der neuesten Zeit, die an die fachmännische Aus- 
bildung und den organischen Studienbetrieb der 
sog. praktischen Berufe immer höhere Anforde- 
rungen stellen, haben aus den vorhandenen niede- 
ren technischen Schulen eine stattliche Zahl von 
neuen Hochschulen hervorwachsen lassen, die nach 
dem Muster der alten Universitäten eingerichtet 
sind, so die technischen, landwirtschaftlichen, forst- 
wirtschaftlichen, tierärztlichen Hochschulen, die 
Kunstakademien, Kriegsakademien und die Han- 
delshochschulen. Technische Hochschulen befinden 
sich in Aachen (1880), Berlin-Charlottenburg 
(1882), Breslau (1910), Braunschweig (1862), 
Danzig (1904), Darmstadt (1829), Dresden 
(1828), Hannover (1830), Karlsruhe (1825), 
München (1827) und Stuttgart (1829). Die ge- 
nannten Anstalten werden in mehrere „Abtei- 
lungen" für die einzelnen Fächer gegliedert, so für 
Architektur, Ingenieurwesen, Chemie, Hütten- 
kunde usw. Am 19. Okt. 1899 wurde gelegent- 
lich der Hundertjahrfeier der Berliner Technischen 
Hochschule zunächst den Technischen Hoch- 
schulen Preußens und alsbald auch den übrigen 
das Recht verliehen, als akademischen Grad den 
Titel Dr. Ing. zu verleihen. Die erste Handels- 
hochschule wurde 1898 in Leipzig von der 
Handelskammer begründet im Einvernehmen mit 
dem Akademischen Senat der Universität, nachdem 
das sächsische Ministerium des Innern in einem 
Erlaß vom 14. Jan. dieses Jahrs die in der Denk-
	        
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