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Rücklehr zur scholastischen (vornehmlich thomisti-
schen) Philosophie und Theologie statt, doch so,
daß dieselben durch die Resultate der modernen
Wissenschaft bereichert wurden. — Eine gewaltige
Umwälzung brachte in der Jurisprudenz die von
Karl Friedrich v. Savigny begründete historische
Schule hervor, die das Recht und den Staat nicht
mehr als eine philosophische Konstruktion, sondern
als ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung
auffaßte und dadurch die Trennung in Romanisten
(die vom römischen Recht als Quelle der Rechts-
entwicklung ausgehen) und Germanisten (die das
deutsche Recht als diese Quelle betrachten) bewirkte.
Strafrecht und Staatsrecht, Handels-, Wechsel-
und Seerecht und Luftschiffahrtsrecht haben eine
eigentümliche und besondere Ausbildung erhalten.
Die größten Fortschritte haben in diesem Zeit-
raum die Medizin und die Naturwissenschaften
aufzuweisen, wodurch die vielfältige Zerlegung
dieser Disziplinen in Einzelfächer verursacht wor-
den ist. Die mathematisch -naturwissenschaftliche
Forschung hatte in Gauß, Weber und Liebig
bahnbrechende Vertreter. Unter dem Einfluß von
Joh. Müller und seinen Schülern Helmholtz. Du-
bois-Reymond, Virchow und Brücke wurde die
Medizin auf rein naturwissenschaftlicher Grund-
lage aufgebaut. Die einzelnen Fächer finden ihre
Pflege in einer reichen Fülle von anatomischen,
physiologischen, pathologisch-anatomischen,chirur-
gischen, pharmakologischen und hygienischen In-
stituten sowie in trefflich ausgestatteten naturwissen-
schaftlichen Instituten, Laboratorien und Samm-
lungen. Die Errungenschaften der Chemie und der
Physik haben auch auf die Entwicklung der In-
dustrie einen großen Einfluß gewonnen. — Eine
mathematisch-naturwissenschaftliche als fünfte Fa-
kultät besteht, nach dem Vorgang von Tübingen,
nur noch in Straßburg und Heidelberg. An den
andern Universitäten sind Mathematik und Natur-
wissenschaften Teile der philosophischen Fakultät,
die an den bayrischen Hochschulen in zwei Sektio-
nen zerfällt. Während in Straßburg, Würzburg
und Münster eine rechts= und staatswissenschaft-
liche Fakultät besteht, hat man neuerdings an fast
allen Hochschulen sog. „staatswissenschaftliche Se-
minarien“ eingerichtet, mancherorts „kameralisti-
sche“ oder „statistische“ Seminarien genannt. —
Einebesondere Eigentümlichkeit des modernen Hoch-
schulwesens ist es, daß neben den Vorlesungen
Übungen in Seminarien oder Instituten her-
gehen, welche eigne Arbeitsräume und Fachbiblio-
theken haben. Die ersten Seminarien wurden am
Ende des 18. Jahrh. in Göttingen und Halle
für philologisch-pädagogische Zwecke eingerichtet.
Gegenwärtig bestehen solche in allen Fakultäten
außer der medizinisch-naturwissenschaftlichen, in
denen Institute und Kliniken Ersatz dafür bieten.
In den seminaristischen Ubungen, die meist für
Anfänger (Proseminare) und für Vorgerückte ge-
teilt sind, sollen die Mitglieder die Methode des
wissenschaftlichen Arbeitens erlernen und an der
Universitäten.
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Forschung mehr oder minder selbsttätig teilnehmen,
wie sie in der medizinischen Fakultät sich auch in
den Kliniken und Krankenhäusern praktisch be-
tätigen. In der juristischen Fakultät ist der Besuch
solcher Ubungen für das bürgerliche Recht und den
Zivilprozeß vorgeschrieben.
Während in England noch heute für den In-
genieurberuf die praktische Ausbildung, das „Lehr-
lingssystem“, als das Wesentliche betrachtet, ander-
seits der wissenschaftliche Unterricht unterschätzt
wird, infolgedessen der theoretische Unterricht in
Spezialschulen erst nach der Lehrlingszeit in einer
Fabrik oder einem Bureau folgt, erkennt man in
Deutschland, in Osterreich und der Schweiz wie in
Nordamerika den hohen Wert des wissenschaftlichen
Hochschulunterrichts als notwendige Vorbedingung
für den Ingenieur= und Architektenberuf an. Die
Bauakademie (gegründet 1799) und die Gewerbe-
akademie in Berlin, die aus der im Jahr 1821
eröffneten Technischen Schule hervorging, gehörten
wie in Paris die Ecole Polytechnique aus dem
Jahr 1794 zu den ersten wissenschaftlichen tech-
nischen Lehranstalten in Deutschland. Die Ver-
suche, an die Universität eine polytechnische Fakultät
anzugliedern, wie es z. B. in Göttingen geschah,
blieben vereinzelt, andere Rücksichten und Inter-
essen entschieden immer stärker und bestimmter für
eine dauernde Trennung der beiden Kategorien
von Hohen Schulen.
Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des
19. Jahrh., die technisch-praktischen Bedürfnisse
der neuesten Zeit, die an die fachmännische Aus-
bildung und den organischen Studienbetrieb der
sog. praktischen Berufe immer höhere Anforde-
rungen stellen, haben aus den vorhandenen niede-
ren technischen Schulen eine stattliche Zahl von
neuen Hochschulen hervorwachsen lassen, die nach
dem Muster der alten Universitäten eingerichtet
sind, so die technischen, landwirtschaftlichen, forst-
wirtschaftlichen, tierärztlichen Hochschulen, die
Kunstakademien, Kriegsakademien und die Han-
delshochschulen. Technische Hochschulen befinden
sich in Aachen (1880), Berlin-Charlottenburg
(1882), Breslau (1910), Braunschweig (1862),
Danzig (1904), Darmstadt (1829), Dresden
(1828), Hannover (1830), Karlsruhe (1825),
München (1827) und Stuttgart (1829). Die ge-
nannten Anstalten werden in mehrere „Abtei-
lungen" für die einzelnen Fächer gegliedert, so für
Architektur, Ingenieurwesen, Chemie, Hütten-
kunde usw. Am 19. Okt. 1899 wurde gelegent-
lich der Hundertjahrfeier der Berliner Technischen
Hochschule zunächst den Technischen Hoch-
schulen Preußens und alsbald auch den übrigen
das Recht verliehen, als akademischen Grad den
Titel Dr. Ing. zu verleihen. Die erste Handels-
hochschule wurde 1898 in Leipzig von der
Handelskammer begründet im Einvernehmen mit
dem Akademischen Senat der Universität, nachdem
das sächsische Ministerium des Innern in einem
Erlaß vom 14. Jan. dieses Jahrs die in der Denk-